Ein Hauch von griechischer Tragödie liegt von Anfang an über dem Geschehen, etwas Schicksalhaftes, Unausweichliches, das sich bloß noch zu entfalten sucht. Die Unwirtlichkeit des Ortes tut da ihr Übriges: wir sind in Alaska, an einem See, die Natur ist abweisend. Gary und Irene, beide Mitte fünfzig, sind aus Kalifornien hierher gezogen, um den Rest an Lebenszeit mit der Ausfüllung eines Traums zu gestalten, Gary ist dabei der Aktivere, er will auf einer Insel unweit ihrer Bleibe eine Hütte bauen, will dort zumindest einen Winter lang leben – allein am liebsten, wie man seinen geheimen Überlegungen bald entnehmen kann, er ist sein Leben lang, wie es heißt, vor sich selbst davongelaufen, und da spätestens merkt man, dass an dieser Ehe etwas fundamental nicht (mehr) stimmt. Irene ist für ihn mehr eine Erfüllungsgehilfin, unterstützt ihn bei allem, bleibt aber eher skeptisch und mürrisch, und dafür hat sie ihre Gründe.
Nichts funktioniert so richtig. Alles scheint von einer fundamentalen Vergeblichkeit unterwandert zu sein. „Er verstand die Ehe nicht. Die schrittweise Verweigerung aller Begierden, der frühe Tod des Selbst und aller Möglichkeiten.“ Gary ist ein Dilettant, kein Heimwerker mit Talent, die Hütte wird zu einem schiefen, winddurchlässigen Gebilde. Bis es überhaupt so weit ist, erkrankt Irene schwer, eine CT ergibt keinen Befund. Ihre höllischen Kopfschmerzen, die sie mit harten Mitteln unterdrückt, interessieren Gary, der verbissen seinen Hüttenbau verfolgt, nicht. Im Gegenteil: die Tatsache, dass medizinisch nichts gefunden wird, liest er als Indiz, dass Irene sich nur seinem Traum verweigern will. Und so wird die ganze Entfremdung manifest. Irgenwann kommt es zum gewaltigen Ausbruch, die Sache nimmt ein böses Ende. Zuvor war schon von der „Sehnsucht nach Auslöschung“ die Rede, und tatsächlich zeigt sich, eigentlich bei beiden, ein ausgefeilter Todestrieb.
Doch da sind ja noch die anderen, nicht zu vernachlässigenden Figuren, auf ihre Art ebenso Gescheiterte, ebenso welche, denen es zusehends immer schwerer fällt, aufrichtig zu sein und vernünftig zu reagieren. Rhoda, Irenes Tochter, sie arbeitet in einer Tierarztpraxis, ist vergleichsweise noch gut geerdet. Ihr Freund und Ehemann-in-spe Jim, ein Zahnarzt, nutzt aber schon eine erste Gelegenheit zum Seitensprung, wobei die Betreffende, Monique, ihn gleich erpresst: sie will 10.000 Dollar von ihm, ansonsten würde sie Rhoda alles verraten. Jim zahlt. Bezeichnend, wie Monique beim ersten Zusammentreffen mit Rhoda, die sie übrigens gleich sympathisch findet, schon an deren Zukunft denkt: „Am liebsten hätte sie ihr die Wahrheit gesagt (…) um sie vor Jim zu bewahren.“
Carl wiederum ist Moniques Freund und überrascht sie und Jim in flagranti, nachts auf dem Sofa. Sein Leben zerbricht in diesem Moment jäh, er verlässt sie noch in der Nacht, geht einfach los, heuert später auf einem Dampfer an, wäscht und sortiert Fische, schläft im Schlafsack; sein Leben ist kaputt, alles ist zerbrochen, er ist „fertig mit Alaska“. Rhoda, besorgt um ihre Eltern, will rüber auf die Insel, um nach ihnen zu sehen; da sind beide schon nicht mehr am Leben.
David Vann ist ein Existenzialist feinsten Kalibers, das zeigte auch bereits sein großer Roman „Im Schatten des Vaters“, der übrigens auch in Alaska spielt. Die Kälte ist hier mehr als nur eine Metapher. Und sie kommt mit großer Wucht.
David Vann: Die Unermesslichkeit. Roman. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp, Berlin 2012, 351 S., 22,95 €
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