Zu ihrem 60. Geburtstag plant die hier erzählende Elisabeth ein Frühlingsfest in ihrer Wohnung, u.a. soll auch das Mieterpärchen aus dem 5. Stock mit von der Partie sein, mit dem Mann, einem gewissen Jean–Lino, verbindet sie bereits eine gewisse Gedankenfreundschaft, beide philosophieren z.B. gern über das Älterwerden. Als es so weit ist mit der Party, erlebt man zunächst die typischen Verkrampfungen von Leuten, die sich nicht kennen. Doch vorerst ist alles in Ordnung, die Tortilla wird aufgeschnitten, der Champagner gereicht.
Jean–Linos stark esoterisch verankerte Frau Lydie hat ein Faible für Biokost und artgerechte Haltung; es entzündet sich eine Diskussion zwischen den Befürwortern der biologischen Aufzucht und jenen, die das alles für Quatsch halten. Lydie verspeist nur Hühnchen, die vorher auch im Baum gesessen haben, und neben dieser ganzen unglücklichen, ja peinlichen Selbstinszenierung macht Jean–Lino sich noch erkennbar lustig über seine Frau (er ahmt ein flatterndes Huhn nach). All das wird am Ende tödliche Konsequenzen haben – für Lydie: Jean wird seine Frau nach dem Fest erwürgen. Da hatte sich wohl schon länger etwas aufgestaut.
Ähnlich wie in ihren früheren Büchern, allen voran in ihrem maliziösen Roman „Der Gott des Gemetzels“, geraten die Dinge erst langsam, dann immer deutlicher und konsequenter aus dem Ruder. Doch auch die vermeintlich intakte Erzählerin erscheint einem bald seltsam. Vollends suspekt wird sie, als sie, um die Leiche zu inspizieren, mit ihrem Mann Pierre in Jean–Linos Wohnung geht und von der Tatsache, dass da jemand seine Frau umgebracht hat, vollkommen unberührt bleibt. Stattdessen will sie die Leiche „ein bisschen besser herrichten“, legt ihr einen Schal um den Hals. Ihr Mann Pierre und Jean–Lino verschließen der Toten Augen und Mund, damit das Ganze nicht so hässlich aussieht, Jean–Lino zieht ihr sogar noch Schuhe an. Abgesehen von den kriminologisch relevanten Manipulationen am Opfer staunt man über den ganzen Vorgang; Geschocktsein bei Beteiligten geht anders. Denn auch wenn sie deutlich Zuneigung zu Jean–Lino zeigt, staunt man ob dieser Pervertierung: Warum entwickelt sie mehr Verständnis für den Täter als für das Opfer? Letzteres ist ihr komplett egal, sie versucht nicht einmal, es zu kaschieren.
Womit nunmehr alle auftretenden Figuren ins Zwielicht geraten sind. Reza zeigt Individuen, die die gesellschaftlichen Regeln des Anstands, der Empathie und überhaupt Ansätze einer brauchbaren objektiven Ethik verloren oder weitgehend abgelegt haben; dabei geht es ihr weniger um psychologische Ursachenforschung, als um das Aufzeigen eines soziologischen Defizits. Es scheint, als hätte die zwischenmenschliche Erkaltung Ausmaße angenommen, die in dieser gefühlstauben Umgebung sanktioniert und schon länger als Konsens, als Einverstandensein, wahrgenommen sind. Bei den zum Teil absurden Dialogen fällt auf, wie die Erzählerin die Tat, das Geschehen, immer wieder defokussiert und lieber über ganz andere Dinge redet. Allein das Hin und Her, bis tatsächlich die Polizei verständigt wird (fast kommt es nicht dazu, denn das Handy gibt mitten im Anruf den Geist auf) zeigt das schiere Nichtvorhandensein natürlich funktionierender Reaktionen.
Fazit: Ein in seiner negativen Tiefenauslotung sublimer Roman; einzig das unspektakulär ausfallende Ende mit einer eher drögen Rekonstruktion des Tathergangs hätte vielleicht einen kleinen dramaturgischen Kick ins Überraschende verdient gehabt.
Yasmina Reza: Babylon. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, München 2017, 219 S., 22.- €
aus biograph 09/2017
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