Man kann über Louis–Ferdinand Céline (1894–1961) nicht sprechen, ohne über Sprache zu sprechen. Seit bald hundert Jahren begeistert, verwirrt oder erzürnt er die Fachwelt ebenso wie seine Leser. Bei jeder Neuauflage wechseln Lobeshymnen ständig mit Verrissen oder (künstlich wirkenden) Ekelanfällen. In Frankreich war er über all die Jahrzehnte eher gefeiert worden, was insbesondere für seinen Erstling „Reise ans Ende der Nacht“ von 1932 gilt, natürlich mit der notorisch mitgelieferten Einschränkung, dass man es bei diesem Mann, was sich konkret aber erst später herausstellen sollte, mit einem Antisemiten und Rassisten erster Güte zu tun hatte, der nach Aufkommen des Faschismus in Europa seinem hemmungslosen rechtsextremen Wahn keinen Einhalt mehr gebot. Seine antisemitischen Schriften Ende der 30er–Jahre sind bis heute nicht wieder aufgelegt worden und werden es wohl auch in Zukunft nicht sein.
„Mort à crédit“, so der französische Originaltitel, war Célines zweiter Roman, er erschien 1936 und lautete in der deutschen Übersetzung bis zu dieser vorliegenden Fassung „Tod auf Kredit“. Schmidt–Henkel, der vor ca. 20 Jahren auch die „Reise“ sehr stimmig neu übersetzt hatte, wählte hier den genaueren Titel „Tod auf Raten“; Näheres dazu kommt in seinem Nachwort zur Sprache.
Das Buch erzählt die Vorgeschichte zur erwähnten „Reise“, schildert einen Protagonisten, den jungen Ferdinand, bevor der im Ersten Weltkrieg seine himmelschreienden Erfahrungen sammeln wird. Wir befinden uns am Anfang des 20. Jahrhunderts, noch in der sogenannten „Belle Époque“ (von der hier freilich nichts zu spüren ist). Ferdinands Eltern sind Kleinkrämer mit einer Schneider–Boutique in einer Pariser Passage, verdingen sich auch auf Jahrmärkten. Es ist eine beinharte Zeit, die von Céline mit viel naturalistischem Kolorit angereichert wird, Ferdinand lässt in seinen Schilderungen, etwa wenn es um die Darstellung von Sex, Körperfunktionen bzw. Ausscheidungen geht, kaum etwas aus. Das alles schockiert heute nicht mehr so wie damals, da wurde Derartiges anders aufgenommen; aber deftig bleibt es allemal.
Die Versuche, für Ferdinand einen Job zu ergattern (er gelangt sogar auf ein College in England), bei dem er nicht sofort wieder Reißaus nimmt, scheitern, das Verhältnis zu seinen Eltern, insbesondere zum Vater, zerbricht, es kommt fast zum Mord, die Mutter kränkelt vor sich hin. Er findet schließlich eine Anstellung bei einem gewissen Courtial, einem Zeitschriftenherausgeber und skurrilen Erfinder (u.a. von Taucherglocken und Heißluftballons). Die Sache geht eine Zeitlang gut, doch später, beide haben sich nach einer spektakulären Zerstörung des Ateliers Courtials bereits in die Provinz zurückgezogen, entpuppt sich der Mann als gefährlicher Scharlatan, die Polizei rückt ihm zu Leibe. Enttäuscht kehrt Ferdinand zu seinem Onkel nach Paris zurück und will sich zur Armee melden.
So viel zum Plot, der ohnehin sekundär erscheint. Denn alles dreht sich um diese krude, staccatohaft vorgetragene Sprache, der durch Célines ominöse Drei–Punkte–Manie („…“) ohnehin etwas Atemloses und Improvisiertes anhaftet (was als Stilmittel selbstredend Kalkül ist). Man muss sich, wenn man Céline nicht kennt, ein wenig daran gewöhnen. Insgesamt kommt das Buch an die erwähnte „Reise“ nicht ganz heran, die aus Proletariersicht eingeschriebene Gesellschaftskritik bleibt aber virulent, sämtliche Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen in diesem fulminant vorgetragenen Furor. Allein wegen seiner zahlreichen Zumutungen fiele der Roman heute durch sämtliche Maschen moralischer Integrität. Da er indessen historisch einzuschätzen ist, bleiben geschmäcklerische Einordnungen allein dem Urteil des Lesers überlassen.
Louis–Ferdinand Céline: Tod auf Raten. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt–Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 812 S., 38.-€
aus biograph 04/2022
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