Anhand von Edith Whartons 1920 veröffentlichtem Roman „Zeit der Unschuld“ lässt sich nachvollziehen, in welchem Maße gesellschaftliche Konventionen, tradierte Verhaltenskodizes oder ethische Mindeststandards dazu taugen, die Entscheidungsspielräume eines Menschen zu bedrängen oder zu konterkarieren. Die ganzen bürgerlich fundierten Etikette, oftmals bagatellisiert in Begriffen des sogenannten „guten Tons“, des äußeren Erscheinungsbilds oder des sozialen comme–il–faut, sind geeignet, zerstörerische (oder selbstzerstörerische) Kräfte in Gang setzen; Wharton spielt das anhand eines kleines Figuren–Ensembles in absoluter Konsequenz und atemberaubender Meisterschaft durch.
New York, 1870. Der Anwalt Newland Archer liebt May („In ganz New York gab es keine bessere Partie als May Welland“), beide wollen heiraten, Kinder kriegen – das übliche Procedere also, wenn man in den Zukunftsbegriffen eines jungen Pärchens denkt. Wie aber so oft, gerät alles in Schieflage, wenn eine dritte Person ins Spiel kommt, hier in Gestalt von Mays Cousine, der Gräfin Ellen Olenska, die, aus Europa angereist, eine Zeit lang in NY bleiben will. Obwohl sie als „schwarzes Schaf“ der Familie gilt, ihr Leumund, kurz gesagt, nicht als der beste gilt (in den angesagten Kreisen zerreißt man sich schon bald den Mund über sie), will ihre Verwandtschaft sich um sie kümmern. Rasch wird klar, dass sie über deutlich mehr Charme und Esprit verfügt als Newlands Angetraute May. Und es dauert auch nicht lange, bis Newland so sehr von ihr angetan ist, dass seine moralische Integrität in Gefahr gerät: Eine Zeitlang kann Newland seine diffusen Gefühle kontrollieren, er will nicht unversehens sein Leben, seine Zukunft mit May riskieren; zudem ist er selbst ein glühender Verfechter gesellschaftlicher Standards. Aber es ist abzusehen, dass das nur schwer zu halten ist.
Ohnehin ahnt er, „dass seine Ehe genauso werden würde wie die meisten anderen (…): eine langweilige Verbindung, eingegangen aus materiellen und gesellschaftlichen Interessen.“ Zudem heißt es, Archer sei „aufrichtig, wenn auch nicht gerade leidenschaftlich verliebt.“
Ellen verkörpert nun genau das Gegenbild zur verkrusteten New Yorker Gesellschaft, sie setzt sich hinweg über das Geplapper und ist einfach nur sie selbst. Interessante Volten zeichnen sich ab: Ausgerechnet die ahnungslose May muntert ihren Mann in spe immer wieder auf, sich um Ellen zu kümmern. Daraus entsteht ein Hin und Her von Annäherung und Verweigerung, das bis zum Schluss durchgespielt wird. Klar ist, Ellen will nicht nur Archers Mätresse sein. Doch alles wird schwieriger, man erkennt es an den Formulierungen: „Ich kann dich nur lieben, wenn ich auf dich verzichte“, so Ellen, und von Erzählerseite: Ellen „würde sich dafür entscheiden, in seiner Nähe zu bleiben, solange er sie nicht bat, näher zu kommen; und es lag bei ihm, sie genau da zu halten, in Sicherheit, aber unerreichbar.“ Ganz am Ende – über 20 Jahre sind vergangen, Newland hat zwei Kinder, May ist gestorben und Ellen ist wieder in Paris – kann Newland sie besuchen, eine Einladung liegt explizit vor; doch angekommen vor dem Haus entscheidet er sich, die Stufen zu ihrer Wohnung nicht hochzusteigen.
Wharton hat eine wunderbare Sprache (was auch in der Neuübersetzung sehr gut zum Ausdruck kommt), ein leiser ironischer Touch durchzieht das Buch. Dabei droht es aber nie ins Kitschige abzugleiten, was bei einer solchen Thematik nicht selbstverständlich ist. Martin Scorsese hat den Roman übrigens 1993 werkgetreu und mit viel Sinn fürs Detail verfilmt.
Edith Wharton: Zeit der Unschuld. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Ott. Manesse Verlag, Zürich 2015, 392 S., 26.95 €
aus biograph 02/2016
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