300 Jahre nach seinem Ersterscheinen ist Daniel Defoes berühmtester Roman „Robinson Crusoe“ in neuer, feiner Übersetzung und, nebenbei, in einer wunderschönen Ausgabe wieder aufgelegt worden. Die Geschichte zusammenzufassen, erübrigt sich im Grunde; jeder kennt sie, jeder hat davon gehört. Die Frage ist, was sie uns heute zu sagen hat.
Das Buch ist, trotz einer gewissen Weitschweifigkeit, gerade am Anfang interessant, wenn Robinsons unbändiger Wille zum Aufbruch, die Lust, die Welt zu erleben, mit den gesellschaftlichen Erwartungen kollidiert, dem Wunsch der Eltern nach einer konkreten Berufswahl, wenn der 18–Jährige sich immer wieder über Zwänge hinwegzusetzen sucht. Er zieht dann einfach los, verlässt England. Seine Abenteuerlust soll bald aber auf eine harte Probe gestellt werden, es gibt schicksalhafte Wendungen, er gerät in Gefangenschaft, türkische Piraten vor der Küste Afrikas halten ihn zwei Jahre lang fest. Nach dem ominösen Schiffbruch, der ihn als einzigen Überlebenden auf eine Insel unweit Tobago schleudert, auf der er dann achtundzwanzig Jahre bleiben wird, ist es mit der Erkundung der Welt natürlich vorbei. Stattdessen wird man Zeuge einer ausgefeilten Selbsterkundung, und da tun sich mit der Zeit wirklich erstaunliche Dinge auf, die aus heutiger Sicht anders zu werten sind als bei Lesern des 17. oder 18. Jahrhunderts.
Was gleich irritiert, ist die zugrunde liegende, kaum wegzudiskutierende Ideologie des Romans, in dem eine Herrenmenschenmentalität dokumentiert ist, die für heutige Leser nicht nur anachronistisch, sondern politisch vollkommen inakzeptabel ist. Wenn man davon absieht, dass Robinson im Laufe der langen Zeit auf der Insel seine kleinkrämerische Seele immer deutlicher herausputzt – zu Anfang bestaunt man noch die handwerkliche Tüfftelei, die clevere Überlebensstrategie mit dem Bau einer Unterkunft und der Aufzucht von Haustieren –, so ist seine rein materielle Ausrichtung, seine detaillierte, ja manische Buchführung über die geringsten Veränderungen seiner Habe, sein aufdringlich frömmelnder Ansatz in seinen Gebeten, sein bürokratisch konzipiertes Tagebuch, Ausdruck eines Denkens, das nichts anderes offenbart als eine abgrundtiefe Spießerseele. Schlimmer aber noch ist der unverhohlene Rassismus, der sich vor allem in der vermeintlich gönnerhaften Position gegenüber „Freitag“ dokumentiert. Abgesehen davon, dass er den Mann, den er vor den Kannibalen rettet, gleich von sich aus einen Namen gibt (nach dem Wochentag, an dem die Rettung stattfand – wie kann er sich da eigentlich so sicher sein?), hält er ihn die ganze Zeit über und wie selbstverständlich in der Rolle und Funktion eines Sklaven, dem er als erstes sehr missionarisch „grundlegende Kenntnisse unserer Religion“ vermittelt. Symptomatisch auch die Szene, in der er Gefangene aus der Gewalt der Kannibalen retten will: So lange dort Schwarze geschlachtet werden sollen, ist das okay, geht es aber einem Weißen, im konkreten Falle einem Spanier, an den Kragen, so wird er aktiv und schreitet mit aller Gewalt ein.
Kaum ist er nach wundersamen Wendungen zurück in England, lässt er sich, völlig gegen seine Natur, häuslich nieder, heiratet, wird Vater dreier Kinder, die namenlose Frau stirbt – all das wird nur kurz erwähnt –, um dann zu erkennen, dass ihm dieses enge Leben eigentlich nicht liegt und er wieder hinaus muss in die Welt.
Die Frage, die sich mithin notwendig stellt, ist die nach der Modernität des Romans, und die beantwortet Günther Wessel in einem instruktiven Nachwort positiv, er nennt das Buch „aktuell und lebendig“, redet gar einer „erstaunlichen Modernität“ das Wort. Diese Meinung dürfte er, führt man sich die hier formulierten Einwände vor Augen, allerdings exklusiv haben.
Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Aus dem Englischen von Rudolf Mast. Nachwort von Günther Wessel. Mareverlag, Hamburg 2019, 412 S., 42.-€
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