Von Eugène Dabit (1898–1936) kennt man vor allem seinen Roman „Hotel du Nord“ (1929), der ihn berühmt machte und von Marcel Carné 1938 verfilmt wurde. Er zeigt sich darin als Chronist kleiner und großer Nöte, seine Sympathie gilt den Zukurzgekommenen. Als Arbeitersohn kannte er das Milieu, das er beschrieb, sehr genau, es ist in seinem überschaubaren Werk als autobiographischer Dauerhinweis verortet. „Petit–Louis“ ist ein komplett unbekannter Roman von ihm, ein Jahr nach „Hotel du Nord“ erschienen, und liegt nun zum ersten Mal auf deutsch vor.
Ein Pariser Arbeitervorort unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs: Der knapp 16–jährige Ich–Erzähler, Louis Decamp, den alle nur Petit–Louis nennen, muss verstört miterleben, wie sein Vater, ein Mann, der anscheinend nicht gerade zu den reflektiertesten Zeitgenossen gehört („Mein Vater ging nicht zur Wahl und las keine Zeitung“), sich freiwillig zum Kriegseinsatz meldet. Der Junge kann nun seine Lehre nicht weitermachen, alle Männer werden eingezogen, er ergattert zunächst noch einen Minijob als Wagenwäscher in einer Transportgesellschaft, derweil seine Mutter fortan als Putzfrau arbeitet; die prekäre finanzielle Lage, die sich mit dem Fortgang des Familienoberhaupts drastisch verschlimmert, liegt wie ein Grauschleier über der gesamten Szenerie. Doch die Beziehung zum Vater bleibt stark, in abenteuerlichen Eskapaden folgt er ihm sogar bis in die Kaserne, nur um ihn zu „besuchen“. Um dauerhaft noch näher bei ihm zu sein, meldet er sich nach den ersten Kriegshandlungen freiwillig zur Armee – und wird, obwohl er eigentlich noch zu jung ist, sofort als tauglich eingestuft und eingezogen.
Der zweite Teil der Romans fokussiert sich insbesondere auf diese Zeit beim Militär. Louis bleibt zunächst weitab vom kriegerischen Geschehen, soldatisches Einerlei, Langeweile und Einsamkeit bestimmen sein Leben. Das Militär gerät zu einer einzigen Enttäuschung. Vielleicht kann er dienstuntauglich geschrieben werden? Er simuliert Krankheiten und Wahnvorstellungen, doch sein Theater verfängt nicht und er handelt sich Arrest ein. Aus seiner Einsamkeit retten wird ihn die Freundschaft zu einem anderen jungen Soldaten, der dem mitunter orientierungslos wirkenden Louis die Augen öffnet, ihn für die schöneren Dinge des Lebens sensibilisiert. An manchen Stellen bekommt der Roman durch die auferlegte Nähe zu seinem neuen Kameraden dabei eine Schlagseite ins Schwülstige, etwa, wenn es heißt: „Ich lasse meinen Freund nicht aus den Augen. Wie gewandt er sich bewegt, wie er sich gibt (…). Ich würde ihn umschwärmen, ihm so viel Liebe schenken.“ Man sollte sich dadurch nicht irritieren lassen, es ist eine Diktion, die in der Literatur dieser Epoche in Frankreich des öfteren vorzufinden ist (vor allem bei André Gide, aber auch bei Saint–Exupéry oder Emmanuel Bove).
Wenn der stets etwas naiv wirkende Petit–Louis dann unerwarteter Weise doch noch an die Front gelangt, dem Allerschlimmsten aber entgehen kann, weiß man zunächst nicht, welche Lehren er daraus zieht. Er ist jedenfalls ein klarer Antipode zu Bardamu, der Figur aus Célines „Reise ans Ende der Nacht“ (1932), der seine Kriegserfahrungen nur angewidert hinausschrie. Dabit beschreibt die (übrigens auch amourösen) Abenteuer seines Helden eher mit einer Art Nonchalance. Bei Kriegsende geht es für Louis zurück nach Paris, sogar zurück ins Elternhaus. Trotzig meint er: „Die Welt ist wie neu, sie gehört mir.“ Der Junge fängt im Grunde bei Null an, der Krieg scheint ihm nur eine Episode gewesen zu sein, nicht weiter erwähnenswert. Allein das ist überraschend.
Eugène Dabit: Petit–Louis. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Julia Schoch. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2018, 237 S., 22.- €
aus biograph 10/18
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