Bernd Cailloux führt sein langjähriges autobiografisches Projekt, in dem von Beginn an die Befindlichkeiten der sogenannten, mythisch umrankten „68er–Generation“ mitverhandelt werden, in einem nunmehr dritten Band weiter; als mittlerweile 70–Jähriger kann er dabei mit einer ebenso originellen wie existenziellen Variante aufwarten – der plötzlichen Konfrontation mit lebenslang gepflegten Verdrängungen, Leugnungen und Verschiebungen. Alles gerät zu einer schonungslos ehrlichen und dennoch wundersam verschwurbelten Geschichte.
Als eine gewisse Brigitte aus dem erweiterten Freundeskreis ihm die banale Frage stellt, ob er Kinder habe, ist es mit den Gewissheiten vorbei. Ein peinlicher Moment, weil er zugeben muss: Ja, da ist ein Sohn, der lebt in Amerika, Kontakt zu ihm gibt es aber nicht. Brigitte ist spontan empört und gibt die Order aus: „Du musst ihn finden!“ Ausgangspunkt für eine Suche, die vordergründig zwar diesem abhanden gekommenen Sohn gilt, in Wahrheit aber ins Zentrum der eigenen Biographie mit all ihren Bruchstellen zielt.
Dieser Sohn also, Eno, der mittlerweile um die dreißig sein müsste, geht aus einer ehemaligen Beziehung zu einer gewissen Nina hervor, und die hatte von vorneherein klar gemacht, dass sie auf einen Vater verzichten könne; sie kultiviert eigene Pläne, will nach Jamaica auswandern, vorher allerdings noch schwanger werden „und einen weißen Jungen zur Welt bringen“. Ihre Ankündigung stößt bei ihm zunächst auf wenig Gegenliebe, so stellt er sich etwa die Frage: Ein Baby kriegen in einer Wellblechhütte am Strand?
Zurück in der Gegenwart: Auf Einladung einer Stiftung fliegt er nach New York, um die Recherchen nach Eno von dort aus auszudehnen. Was folgt und über weite Strecken dieses „Road–Movie“ charakterisiert, ist eine Art Befindlichkeitsaufnahme in pseudo–nostalgischer Grundierung. Und da kommt es zu diesem etwas überraschenden Satz: „Keinen Nachwuchs aufgezogen zu haben, blieb einer der eklatanten Leerstellen der Erfahrung.“ New York, der Erzähler kennt die Stadt aus den frühen 70er–Jahren, inspiriert ihn, seine Introspektionen und sein ausführliches Flanieren durch die Stadt erschaffen eine eigenwillig intensive Atmosphäre. Seine Aufbereitung biografischer Daten wird immer wieder unterminiert von einem stilvollen Abgleiten und Philosophieren eines durch die 60er–Jahre geprägten, sowohl kulturell wie politisch engagierten jungen Mannes, der übrigens gerade im Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie (und den Altstadtkneipen wie dem legendären „Creamcheese“) seine soziologische Prägung erhielt. Immer wieder aktualisiert sich die Diskrepanz zu den einstigen Idealen in kunstvoll gestalteten Umwegen der Selbstreflexion.
Nach weiteren Recherchen – „In Wahrheit war es deprimierend, von herbeigeklickten Daten gesteuert hinter dem Leben seines unbekannten Sohnes herzulaufen“ – erfährt der mittlerweile von seinem Filius recht beeindruckte Vater, dass Eno es bis zur Uni nach Stanford geschafft hatte, doch da erfolgte keine Karriere, nichts. Enos Fähigkeiten liegen wohl woanders, Blogs im Netz, so bekommt er heraus, sind seine Stärke, vor allem zu Bier und zu Baseball.
Und wie sich herausstellt, hat Eno im aktuellen Mann/Lover seiner Mutter Nina auch die eigene Vaterfigur anerkannt, was die Suche des Erzählers abermals unterminiert. Doch er macht, wenn auch mental leicht angeschlagen, weiter, kommt ihm, zumindest geografisch, näher, fliegt nach San Francisco und von dort nach Menlo Park, wo Eno lebt. Die Kontaktaufnahme klappt sogar, man will sich in einem Café treffen. Eno verspätet sich, schickt aber vorab ein Bild seines schlafenden Babys… Wird er noch kommen? Der Fern–Vater ist sich da ganz sicher.
Bernd Cailloux: Der amerikanische Sohn. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 224. S., 22.-€
aus biograph 10/20
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