Der Mann hat eigentlich alles, was man braucht oder sich wünscht. George Babbitt, Ende 40, ist Immobilienmakler, lebt Anfang 1920 in der aufstrebenden (fiktiven) Stadt Zenith, hat ein Haus, ein Auto, eine Frau und drei Kinder, und doch zeigt er alle Anzeichen einer beginnenden und bald sich verschärfenden Midlife–Crisis.
Das ganze Setting wirkt auf den ersten Blick sehr amerikanisch. Viel republikanische Überzeugung kommt in dem Gerede mit seinen Nachbarn oder seinem Tankwart zutage, man zeigt sich sittenstramm, materialistisch und, logo, politisch rechts. Babbitt ist ein widersprüchlicher Charakter. Er befürwortet die Prohibition, hält sich aber selbst nicht dran und neigt zum Hochprozentigen; für ein geplantes Abendessen mit Gästen besorgt er Gin, illegal versteht sich, und es wird gezecht, bis Gebrochenes klar. Babbitt lobt die Gesetze zur Geschwindigkeitsbegrenzung und verstößt regelmäßig dagegen. Mehrere Male versucht er, sich das Rauchen abzugewöhnen und belässt es bei den Vorsätzen. Einzig sein bester Freund, Paul Riesling, redet schon mal Tacheles mit ihm, und der darf das, er scheint ihn sogar ein Stück weit zu beeindrucken, seine Frau, seine Kinder hingegen – die haben so gut wie keinen Einfluss auf ihn. Er liebt es geradezu, missverstanden zu sein.
Es ist die Krise der mittleren Jahre, Babbitt spürt sie, sie macht ihm zu schaffen, trotz allen Erfolgs und Geldes ist da eine Leere, die tief reichende Sinnkrise eines Mannes, der in einem Anfall von „Soll–das–schon–alles–gewesen–sein“ sein Leben in Frage stellt. Ersatzhandlungen prägen sein Tun: kleine Affären, Flirts und Techtelmechtel, in der Summe klägliche Ausreißversuche. Mit Paul will er zum Angeln raus, die Familie zurücklassen und endlich frei atmen. Auf einmal träumt er davon, Trapper, Höhlenmensch zu sein, denn das sei doch „das wahre Leben“. Lewis (1885–1951) bringt es auf den Punkt, wenn er Babbitts Manöver als „idiotisches Rumgeeiere“ abqualifiziert. Dennoch: Trotz satirischer Untertöne macht er sich nie in plumper Weise lustig über seinen Protagonisten.
Lewis Roman wirkt nicht nur modern, weil er die psychologisch relevanten Parameter bedient, die auch unsere Zeitläufte bestimmen – Zeitmangel, Burnout, Mobbing, sexuelle Kompensationen etc. –, sondern auch wegen seiner brandaktuellen Themen, die einen ins Amerika Donald Trumps versetzt fühlen lassen. In einem Zugabteil etwa kommt es zu einer langen launigen Unterhaltung und es flammen rassistische Ansichten hoch, die natürlich nicht als solche verstanden sein wollen, aber Sprüche wie „die verdammten Ausländer sollte man auch erst gar nicht ins Land lassen“, erst recht nicht die „Hunnen und Spaghettifresser“, kommen einem seltsam bekannt vor. Als Babbitt plötzlich stärker mit sozialer Wirklichkeit konfrontiert wird, zeigt sich der erzkonservative Mann erstaunlich wandelbar und entwickelt ein Gespür für Benachteiligte, Versager und Underdogs. Während des Wahlkampfs und später, während einer Demonstration, stellt er sich gar auf die Seite der Gewerkschaften, was ihm das dröhnende Unverständnis seiner betuchten Entourage einbringt. Er wird als „Liberaler“ bezeichnet, die schlimmste Beleidigung überhaupt. Babbitts politische „Weichspülung“ wird sich schließlich wieder gelegt haben – jede Krise hat mal ein Ende – und er wird auch endlich der „Liga der anständigen Bürger“ beitreten, aber dass er zwischenzeitlich überhaupt mal so etwas wie Empathie entwickelt, war gar nicht zu erwarten. Er ist keine unbedingt sympathische, aber wegen ihrer Komplexität bemerkenswerte Figur, man folgt ihrem Schlingerkurs amüsiert oder kopfschüttelnd – und denkt einmal mehr an den derzeitigen Clown im Weißen Haus.
Sinclair Lewis: Babbitt. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Nachwort von Michael Köhlmeier. Manesse Verlag, München 2017, 782 S., 28.- €
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