Dies als Randnotiz vorab: New York hat mich als Stadt nie interessiert, die Gründe sind unbedeutend, aber nachdem ich mittlerweile (und viel zu spät) alle Geschichten Joseph Mitchells über diese Metropole gelesen habe, denke ich: grundfalsch! Das Traurige ist, dass es das von ihm beschriebene NY schon lange nicht mehr gibt; seine Geschichten stammen vornehmlich aus den 1930er bis 50er–Jahren, als diese Stadt an zahlreichen Stellen eher noch den Charme eines provinziellen Marktfleckens verströmte. Joseph Mitchell, so viel zu seiner Biografie, kam selbst aus einem Kaff in North Dakota, gelangte 1929 mit 21 Jahren nach New York und begann bald für diverse Zeitungen zu schreiben, 1938 ergatterte er eine Festanstellung als Journalist beim New Yorker. Anfang der 60er–Jahre hörte er auf zu publizieren und veröffentlichte bis zu seinem Tod 1996 so gut wie nichts mehr.
Soeben erschienen ist ein fünfter, zugegeben recht schmaler Band mit „Erinnerungen“, hier war wohl eine Autobiografie geplant, die wichtigsten Bücher von ihm liegen schon länger vor, und dazu zähle ich vor allem die höchst unterhaltsame Geschichtensammlung „McSorley’s Wonderful Saloon“, ein in jeder Hinsicht einzigartiges Buch, gerade neu aufgelegt worden. Der typische Mitchell–Sound ist freilich auch in den drei Erinnerungstexten zu vernehmen. Mitchell war ein passionierter Flaneur der Großstadt, kannte die Randbezirke New Yorks aus dem FF. Mit Nonchalance und notorischer Muße beobachtete er die sogenannten kleinen Leute, unter denen sich allerlei skurrile Figuren tummelten (Kartenabreißerinnen, Fischverkäufer, Obdachlose, Prostituierte, Bartfrauen). Nichts ist hier zu lesen über Wall Street, High–Society oder sonstigen Glamour, Mitchell war ein Kundschafter des Randständigen. Dabei kommt das in seinen Berichten nie als naserümpfender Ausdruck des Hochmuts daher, sondern als genuin empathische Würdigung allgemeiner Diversität. Seine Zuneigung für Kirchen und Messen, für Märkte (insbesondere den Fulton Fish Market, den er als seine „geistige Heimat“ bezeichnet und in dem kleinen Buch „Old Mr. Flood“ ausführlich beschrieben hat), aber auch für Kaufhäuser, Lager und obskure Kneipen ist legendär. Wie er an anderer Stelle einmal festhielt, empfand er stets eine „Sehnsucht nach der Gosse“. All seine Reportagen verströmen eigenwilligen Charme und bieten subtilen Humor, wobei sich im konkreten Fall, in den späten Berichten bzw. Erinnerungen, unterschwellig auch eine Traurigkeit erkennen lässt, viel Nostalgie gerät da ins Spiel, unumwunden drückt er Heimweh aus nach seinem verschlafenen Geburtsnest in North Dakota. Mitchell litt in den späteren Jahren seines Lebens unter Depressionen, seine Einlassungen wirken mitunter ein Stück weit entrückt, einmal bezeichnet er sich abwinkend als ein „Mann der Vergangenheit“.
Was aber nicht darüber hinwegtäuscht: Seine Reportagen sind durch schlichte lebensphilosophische Weisheit geprägt, manchmal wird man von einem kleinen, aber gänzlich unerwarteten Erkenntniszugewinn geradezu überwältigt. Und der verdankt sich wiederum, hier schließt sich der Kreis, den Statements seiner Interviewpartner. Schwer zu sagen, ob Mitchell sich all diese Gespräche tatsächlich sofort notiert hat oder ob er das Ganze später aufgeschrieben und einiges womöglich sogar mit journalistischer Freiheit hinzuerfunden hat – es spielt keine Rolle. Grundsätzliche Verlässlichkeit ziehen diese Geschichten aus ihrem dokumentarischen Ansatz. Ein Hochgenuss für Liebhaber des Schiefen, Schrägen, Abseitigen.
Joseph Mitchell: Street Life. Erinnerungen aus der Stadt meines Lebens. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Schulz, Diaphanes Verlag, Zürich 2021, 103 S., 15.-€
-- : McSorley’s Wonderful Saloon. New Yorker Geschichten. Aus dem amerik. Englisch von Sven Koch und Andrea Stumpf, Diaphanes, Zürich 2021, 432 S., 20.-€
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