Der walisische Schriftsteller Arthur Machen (1863–1947) ist trotz einiger in den 1990er–Jahren geschaffenen Übersetzungen hierzulande kaum, ja eigentlich gar nicht bekannt, und nach Meinung des Berliner Elfenbein Verlags, der im letzten Jahr eine sechsbändige Edition gestartet hat, muss das dringend geändert werden. Recht hat er. Soeben ist der dritte Band besagter Edition herausgekommen. „Der Schrecken“ ist dabei nicht wirklich ein Roman, sondern ein explizit als eine „Phantasie“ gekennzeichnetes Prosastück. Ehe man sich versieht, ist man schon mittendrin in einer akuten bzw. aktuell wirkenden Debatte über Ängste und Phobien: In den gerade gelebten Zeiten der Verunsicherung muss man auch gar nicht besonders sensibilisiert sein, um das hier Erzählte als eine Allegorie auf alle nur denkbaren Einschnitte zu erkennen – mit diesen immer ähnlichen Phänomenen: dem kompletten Erlahmen bzw. Verschwinden alltäglicher Selbstverständlichkeiten, der virulenten Dialektik von Isolation und individueller Vereinsamung, und nicht zuletzt dem – sonst zuvor als selbstverständlich erachteten – Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen bzw. dem plötzlich auf dem Prüfstand stehenden solidarischen Reflex.
Wir befinden uns hier allerdings gut hundert Jahre zurück in der Zeit: Machen (sprich: Mecken) schildert aus englischer Sicht bestimmte, freilich hoch seltsame Geschehnisse aus dem Ersten Weltkrieg, er erzählt, wie mangels nachprüfbarer Informationen Halbwahrheiten entstehen und weitererzählt werden, wie eine wilde Gerüchteküche (sogenannte „Flüsternachrichten“) befeuert wird, was die Leute in der Summe in den Wahnsinn treibt. Im konkreten Fall ist es die Angst vor den als „Hunnen“ bezeichneten Deutschen. Mechanismen der Paranoia entwickeln rasch eine Eigendynamik, die Reaktionen ähneln einer kollektiven Phobie. Die Deutschen werden hier gleich überall im Land vermutet, so wird z.B. angenommen, dass sie unterirdisch mitten in England eine Stadt gebaut haben, von wo aus sie ihr Giftgas versprühen; dass neben diffusen Lichterscheinungen (ein rätselhaftes „Leuchten und Brennen“) sie irgendwelche obskuren „Z–Strahlen“ einsetzen, denn für die vielen Todesfälle, die geschildert werden, gibt es zunächst keine andere Erklärung. Menschen verschwinden einfach von der Bildfläche, und vor allem ist nichts davon aus der Presse zu erfahren. Kann das nicht das Werk des Feindes sein? Werden Spione eingesetzt? Gerüchte über eine bereits stattgefundene Landung oder gar Invasion Englands schießen ins Kraut.
Erst als dann sogar noch die Tiere verrückt spielen, sie quasi den Aufstand proben, rückt man endlich von dieser Theorie ab; Pferde überrennen Menschen, werden zu „Mördern“, Tümmler bringen Boote zum Kentern, in den Munitionsfabriken herrschen Ratten, eine Mottenplage bringt mit perfiden Attacken Menschen zum Ersticken. Einmal heißt es sogar: „(…) das Mottengeschlecht war, wie es schien, zu einer bösartigen Verschwörung gegen das Menschengeschlecht vereinigt“. Klingt natürlich schauerlich dick aufgetragen. Tatsächlich ist Mecken vielmehr ein Meister darin, das Grauen schwelen zu lassen. Zumal diese mysteriösen Dinge letztlich unaufgeklärt bleiben: der Schrecken verschwindet, wie er gekommen war. Aber das ist ja vielleicht das Gemeine an der Sache: wer kann schon sagen, dass alles nicht wieder passiert?
Machen hat sichtlich eine Freude daran, an den Stellschrauben der Angst und des Horrors zu drehen, das gelingt ihm sehr gut, noch mehr aber liegen ihm bzw. seinem Erzähler subtile Suggestionen am Herzen, jene feinsinnigen Verunsicherungen und Verschiebungen, die durch quälende Uneindeutigkeit charakterisiert sind.
Arthur Mecken: Der Schrecken. Eine Phantasie. Aus dem Englischen übersetzt u. m. einem Nachwort von Joachim Kalka. Elfenbein Verlag, Berlin 2020, 158 S., 22.-€
aus biograph 06/20
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