„Dor und der September“ ist Karl Friedrich Borées erster Roman aus dem Jahr 1931, der Düsseldorfer Lilienfeld Verlag hat ihn soeben wieder aufgelegt. Es gibt viel zu loben an diesem Buch, von der originellen Geschichte abgesehen, fällt vor allem die Diktion auf, ein „entschleunigtes“ Lesen wird einem fast aufgezwungen. Borée pflegt in diesem Roman über weite Passagen ein Deutsch, das so heute kaum noch oder nicht mehr gesprochen wird. Bei gewissen Begriffen, auch beim Satzbau, könnte der heutige Leser bisweilen ins Stutzen geraten.
Der namenlose Erzähler, nennen wir ihn wie den Autor bei seinem Vornamen Karl – vieles deutet ohnehin auf einen autobiographischen Hintergrund hin –, lernt eine gewisse Dora Malzach kennen, sie ist um die 20 und Studentin, er doppelt so alt und ebenfalls im universitären Umfeld beschäftigt. Die sich anbahnende Beziehung schleppt sich zunächst ein wenig dahin, man trifft sich, man ist sich sympathisch, doch die eigentlich normale Geschichte einer beginnenden Liebe wird immer wieder nachhaltig torpediert, vor allem Dora bzw. Dor, wie sie genannt werden will, entzieht sich aller Nähe, und man versteht lange Zeit nicht, warum das so ist.
Karl wiederum scheint dieser jungen Frau zusehends zu verfallen, er, der sich anfangs sichtlich zurückhält, sie nicht einmal besonders hübsch findet, kann sich allmählich nicht mehr gegen seine stärker werdenden Gefühle wehren, derweil sie Zärtlichkeiten kaum zulässt und sich unzugänglich zeigt. Ansatzweise lässt sie feministische Einstellungen erkennen, und da horcht man auf; sollte sie ihrer Zeit oder ihren Geschlechtsgenossinen sogar voraus sein?
Dors Verhalten bleibt, wie man es dreht und wendet, rätselhaft, ihre Beweggründe im Verborgenen. Wochenlang kann sie Karl zappeln lassen und verschwindet manchmal sogar ganz von der Bildfläche. Wenn diese Dialektik von Nähe und Distanz, dieses ständige Sicheinfühlen und Sichentziehen, auch ein wenig spleenig wirkt, so zieht der Roman doch daraus seine Kraft. Zudem trägt der bereits erwähnte Sprachduktus dazu bei, dass Dors Rätselhaftigkeit eher zu– denn abnimmt. Sie pflegt z.B. die Marotte, unseren Erzähler stets in der dritten Person anzureden („Ich bin nur gekommen, damit er nicht auf mich wartet“) ganz abgesehen davon, dass sie auch in den tatsächlich vertraulichen Momenten vom Siezen nicht ablässt.
Nun bleibt es trotz des leicht emanzipatorischen Ansatzes bei einer klassischen Rollenverteilung, wobei die durch den Erzähler verkörperte männliche Dominanz auch schon mal ins arrogant–Machistische spielen kann. Umgekehrt verharrt Dors angedeutete Auflehnung und postulierte Souveränität in eher biederen Ansätzen („Ihr Männer seid alle Sadisten“), letztendlich unterwirft sie sich der männlichen Auslegung der Spielregeln. Selbstbewusstes weibliches Auftreten steckt hier noch in den Kinderschuhen. Umso bemerkenswerter, dass Dor über die gesamte Strecke die bei weitem interessantere Figur bleibt.
Vielleicht auch aufgrund einer letzten eingestreuten Pikanterie: Angeblich gibt es bei ihr noch einen anderen Mann im Hintergrund. Will oder soll sie ihn heiraten? Darauf angesprochen, laviert sie herum, und erneut werden ihre Gefühle nicht klar erkennbar. Karl stellt ihr nun seinerseits einen Heiratsantrag; der wird abgelehnt. Sie kommen einfach nicht zusammen. Das Scheitern der Beziehung zwischen Dor und Karl erscheint letztlich profan: ein zu hoher Altersunterschied lässt die Figuren bzw. ihre jeweiligen Weltansichten unvereinbar erscheinen. Karl erkennt das, will das Terrain „einem Besseren überlassen“. Und beide scheinen tatsächlich mit dieser ernüchternden Einsicht leben zu können, man zeigt sich versöhnlich, eine moralische Bewertung bleibt aus. Ein ausgesprochen cooles Ende.
Karl Friedrich Borée: Dor und der September. Roman. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, 276 S., 22.- €
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