Der Mann ist melacholiegefährdet, moralisch verwahrlost und sitzt zu allem Überfluss noch im „Fler“, dem „Café der Übriggebliebenen“ in Berlin. Wer sich gleich zu Anfang so positioniert und einem seinen Lebensblues sehr existenzialistisch um die Ohren haut, der dürfte ein komplexeres Päckchen zu tragen haben. Bernd Cailloux ist Jahrgang 1945 und lebt seit Mitte der 70er Jahre in Berlin, er hat sich in seinen Erzählungen und Romanen schon immer wieder der Auslotung eines Lebensgefühls gewidmet, das man in Ermangelung genauerer soziologischer oder psychologischer Konzepte mit dem Begriff der „68er“ zu umreißen versucht. Tatsächlich hat man es bei diesen 68ern wohl mit einer besonderen Spezies zu tun, und das, was der Ich-Erzähler nun in diesem von ihm so genannten „Erinnerungsroman“ zu Papier bringt, reflektiert gleich eine ganze Epoche und einen spezifischen Zeitgeist der 70er Jahre dazu; da wird vor allem das Scheitern einstmals wüst aufgeblasener Theorien zum kuschelig umhegten Leitthema. Zu Anfang war der Mann nur der “Nachberlingeher“, um dem Barras eins auszuwischen, das war einst der „Königsweg der Unangepassten“. In den Berliner Szenelokalen der Zeit (etwa dem legendären „Dschungel“) schwadronierte man, statt nur dumm herumzustehen und um Beklemmungen in den Griff zu bekommen, über Hegel und Heidegger, der hier kurz eingeführte dauerbesoffene Eckhard wurde gleich zum „Hegelkreisleiter“ promoviert, doch für den Ich-Erzähler drehte sich alles bald nur noch – und dann doch eher subjektiv und profan – um die drei Ks: Katja, Kino, Kneipe. Den Frauen kommt hier im Übrigen eine tragendere Rolle zu, auch wenn ihre Porträts nicht unbedingt schmeichelhaft ausfallen. Statt Katja ist es irgendwann Ella, die sein Leben bestimmt, dann Regine, beschrieben als ein „kokottenhaftes, absinth-zerstörtes Bohème-Wesen“. Der Erzähler redet sich gerne in erotische Phantasien hinein, es ist eine wohlfeile Ersatzdroge, wenn anderes nicht zur Verfügung steht. Mit Katja ist es sinnigerweise eine Zeit ohne Sex, was dann gleich wunderbar verklärt bzw. sublimiert wird zur „Schöneberger Anwort auf Sartre und Beauvoir“ (bekanntlich „pflegten“ beide französischen Meisterphilosophen ihre sexuellen Kontakte lieber außerhalb als innerhalb der eigenen Beziehung).
Was ins Auge fällt, ist Cailloux’ Sprache. Man registriert eine reflektiert-amüsante Mischung aus frühem Eckhard Henscheid („Geht in Ordnung – sowieo – genau“) und spätem Thomas Kapielski (und seiner „Gottesbeweise“): mal schnoddrig, mal ausgefeilt und oft mit erstaunlichem Tiefgang und Witz. Auch das atmosphärische Drumherum gelingt Cailloux außerordentlich gut, etwa in der Schilderung des studentischen Ambientes, den politisch aufgemotzten Debatten an der Uni im Vorfeld der RAF-Geschichte, wenn ein verunsicherter Ich-Erzähler seine Nichtsdazugehörigkeit als eher schmerzlich erfährt und frustriert feststellt: „(…) nicht einmal zum Hippie hatte es bei bei mir gereicht“. Was für den 68er, der etwas auf sich hält, aber notwendig noch dazugehört, ist die Frage nach der Bewältigung der Nazivergangenheit der Eltern, und so liefert ihm eine Reise nach Buchenwald gegen Ende dieses Romans neue Erkenntnisse: womöglich waren zwei leibliche Onkel von ihm genau dort umgekommen, doch wurde innerhalb der Familie nie ein Wort darüber verloren. Die Fragen und Selbstbefragungen wollen einfach nicht aufhören.
Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste. Roman mémoire. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 271 S., 21.95 €
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