Romain Gary (1914–1980) hatte zu Lebzeiten das Kunststück fertiggebracht, den prestigeträchtigen französischen Literaturpreis Prix Goncourt gleich zweimal zu erhalten (was nach den Statuten gar nicht erlaubt ist), einmal unter seinen richtigen Namen, einmal, viele Jahre später, unter dem Pseudonym Émile Ajar – und der verdatterten Jury war zuvor nichts aufgefallen. Dass dieser Mann, seinerzeit verheiratet mit Jean Seberg, in den Bereich der notorischen Spieler, oder genauer: literarischen Jongleure gehörte, ließe sich immer wieder auch anhand seiner zahlreichen Romane ablesen – was nicht bedeutet, dass es ihm da nicht um wichtige Dinge ginge, etwa um das Thema Résistance, das auch hier, seinem letzten Roman von 1980, dem Jahr, in dem er sich umbrachte, ein zentrales ist.
Dabei sieht alles hier zunächst locker, heiter und ziemlich spleenig aus, was weniger an der Hauptfigur Ludo, dem zu Beginn pubertierenden Jungen aus der Normandie liegt, sondern an dessen erkennbar durchgeknallten Onkel. Der pflegt einen Tick mit Drachen, die er baut und steigen lässt, sehr kreativ geht er dabei zu Werke, gibt ihnen Namen wie „Dickerchen“, „Zitterbacke“ oder “Fliegenbeißer“. Und so entwickelt der Roman zu Anfang einen Charme der Leichtigkeit, die ansteckend wirkt – um dann allmählich immer turbulenter und mit der Zeit auch ernster und spektakulärer zu werden. Ludo leidet an „Gedächtnisüberschuss“, d.h. er kann einfach nichts vergessen, alles frisst sich direkt ein in die Festplatte seines Gehirns, es liegt wohl in der Familie, selbst Ludos Lehrer zeigen sich besorgt. So vergisst er auch seine erste kurze Begegnung mit Lila nicht, einem Mädchen aus Polen, die mit ihrer adligen und mondänen Entourage alljährlich in die Normandie gelangt, um dort die Ferien zu verbringen. Diese mit der Zeit recht unglücklich verlaufende Liebe bildet den Grundstoff der Erzählung, aber man befindet sich in der Vorkriegszeit, den 1930er Jahren, und da verkompliziert sich einiges schon aufgrund der politischen Umstände.
Als mit dem deutschen Überfall auf Polen der Krieg beginnt, ist nicht nur die Liebe zwischen Ludo und Lila prekär geworden – Ludo litt zuvor schon darunter, dass Lila auch Gefühle entwickelte für einen gewissen Hans von Schwede, einem Deutschen –, jetzt gerät das ganze Beziehungsgerüst aus den Fugen. Der Onkel zerstört seine Drachen, Ludo macht sich in der Résistance stark, geht nach Paris, kommt bei einer gewissen Madame Julie unter, eine großartige Nebenfigur übrigens, die als Jüdin und ehemalige Puffmutter mit Ludo ein Widerstandsnetz aufbauen will. Man folgt nun den einzelnen subversiven Aktionen Ludos, seiner Verhaftung, der Einweisung in eine Psychiatrie etc., aber er kommt auch immer wieder frei, und Lila bleibt ständig in seinem Kopf, es kommt da zu Dialogen, die in der Regel nur eingebildet sind, aber man sieht: Ludo ist ihr komplett verfallen.
Eine andere überdrehte Figur, die hier nicht unerwähnt bleiben darf, ist die des Marcellin Duprat, der als Koch mit seinem „Clos Joli“ ein Spitzenrestaurant führt und dort auch Nazigrößen empfängt, sich selbst sogar als den wahren Widerstandskämpfer empfindet und der – angeblich – auch unter Folter seine Lieblingsrezepte nicht ausplaudert. Gary verwischt hier gekonnt die Grenzen zwischen Résistance und Kollaboration. Womit man wieder bei Lila ist, sie wird am Ende als „Fritzenweib“ stigmatisiert, ihr werden bei der Befreiung von Paris wegen angeblicher Kollaboration mit den Nazis öffentlich die Haare geschoren. Dass sie und Ludo am Ende des Krieges doch noch zusammenkommen, sogar heiraten, kann in diesem wunderbaren Roman freilich nur bedingt als Happy End herhalten.
Romain Gary: Die Jagd nach dem Blau. Roman. Aus dem Französischen von Jeanne Pachnicke. Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich 2019, 369 S., 24.-€
aus biograph 08/2019
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