Die 2007 mit 85 Jahren verstorbene Schriftstellerin Grace Paley hatte in ihrem Leben laut ihrer Bibliographie nicht einen einzigen Roman vorgelegt, sich stattdessen vor allem auf das Verfassen von Kurzgeschichten konzentriert. Ihre Storys liegen aktuell neu übersetzt in einem weiteren, zweiten Band vor (nach „Die kleinen Widrigkeiten des Lebens“ von 2013, weitere Bücher sind noch in Vorbereitung). Ihre Storys sind in ihrer Art unvergleichlich, ihr lakonischer Stil, der zumeist ohne groß herausgearbeitete Psychologie auskommt und lieber eine Reihe interpretatorischer Leerstellen in den Plot einbaut, sträubt sich gegen traditionelle Erzählweisen à la John Updike oder ähnlichen Shortstorytellern.
Man nehme etwa die Geschichte „Ganz einfach“: irgendeine Vorstadtstraße, viel kleinbürgerliches Ambiente, problematische Nachbarn mit ebensolchen Kids, und dann eine Erzählerin, die trotz ihrer ziemlich offenen moralischen Empörung ihren einigermaßen proletarisch verorteten Hintergrund nicht ganz verbergen kann; allerdings kompensiert sie das alles mit süffisant angebrachter Lebenserfahrung. Über ihren fremdgehenden Ehemann lästert sie vergleichsweise souverän und reichlich spitz: „Alter Teig geht in einem neuen Ofen nicht auf.“ Und dann ist da der etwas verblödet erscheinende Sohn John, der eine gewisse Virginia mir nichts, dir nichts heiraten will und das beim Frühstück gleich auch lauthals verkündet. Wie Paley nun in der direkt folgenden Szene Komik und soziale Realität kombiniert und zugleich verdichtet, ist in der slapstickhaften Reduzierung einfach unnachahmlich; nämlich so: „'Ich hab's dir ja gesagt', rief mein Mann und ließ die Seite mit den Comics auf seinen Speck fallen.“
Noch eindringlicher als der ganze verprollte Schrott, den uns die Brüllsender à la RTL oder SAT1 jeden verdammten Nachmittag in die Wohnzimmer kippen, funktioniert die Geschichte „Die alte Leier“, die zunächst ähnlich gelagert ist wie die eben geschilderte: ein Haushalt, den man der Kürze halber gut das Präfix „Asi“ anhängen könnte – Messerstecher-Kids, ständige Händel und Wortgefechte nebst hochfeinsinnigem „Fick-deine-Mutter“-Gelaber. Wenn es dann heißt: „Die Mädchen sind lausige Babysitter für die Mütter. Die Jungen wollen zur Armee“, dann wirkt das erzählerisch zwar distanziert, tatsächlich ist da aber in höchstmöglicher Verknappung die Dimension einer sozialen Schieflage offengelegt.
Im Gegensatz dazu bietet Paley freilich auch poetisch und sogar ein wenig kryptisch wirkende Texte, die trotz ihrer sprachlichen Einfachheit bizarre Situationen und Bilder suggerieren, die es zu entschlüsseln gilt. Sie zeigt da mitunter einen vielleicht etwas „schrägeren“ Blick auf die Dinge. Etwa mit ihrer Protagonistin Faith, ein wiederkehrender Name in den Storys, bei dem man manchmal glauben könnte, in ihr spiegele sich ein wenig die Autorin selbst. In der Geschichte „Faith im Baum“ erleben wir eine Art Mutterbeobachterin im Park (konkret eben: im Baum sitzend), die, obwohl sie selber Mutter von zwei Kindern ist, zu Mutterbrut und Mischpoke um sich herum ihre sarkastischen Kommentare ablässt. In Wirklichkeit aber geht es stets um die Beziehung von Mann und Frau, und Paley, die sich zeitlebens auch als Frauenrechtlerin einen Namen gemacht hat, versteht es auf ganz eigene Art, neue Facetten des uralten Widerstreits ans Tageslicht zu fördern.
Grace Paley: Ungeheure Veränderungen in letzter Minute. Storys. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2014, 255 S., € 19,95.
aus biograph 08/2014
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