In seinem vorletzten Buch „Der USB–Stick“ (vgl. Biograph 5/2020) hatte der Belgier Jean–Philippe Toussaint eine neue Figur in sein Werk eingeführt, einen gewissen Jean Detrez (sprich: Détresse, was im Französischen Not, Verlorenheit, Verzweiflung bedeutet und als Hinweis angesehen werden darf). Dieser Detrez arbeitet, auch das wissen wir bereits, bei der Europäischen Kommission in Brüssel und ist dort für den Bereich Zukunftsforschung zuständig. In der vorliegenden Erzählung befinden wir uns zunächst im Sommer 2016, und zwar exakt am Tag des Brexit–Referendums, für Detrez in erster Linie aber der Tag, an dem er sich von seiner Frau Diane trennt. Ein gewisses Gefühlschaos zeichnet sich bereits ab.
Aus beruflichen Gründen ist Detrez viel in Europa unterwegs, auf einer Tagung in England lernt er Enid kennen, eine Estin, es entwickelt sich eine platonische, von vorneherein seltsam heruntergedimmte Beziehung zwischen ihnen, es gibt „Zeichen liebevoller Komplizenschaft“, mehr nicht, sie reist bald ab. Aber Detrez ist enttäuschter als er es sich eingestehen mag, und diese Enttäuschung kompensiert er noch am selben Abend, landet im Zimmer einer anderen Frau. Dort vernebelt sich alles auf einmal für ihn – war es der Alkohol? –, er macht noch ein verwackeltes Foto von einer halbnackten Lady im Raum und weiß anderntags nur, dass er in seinem eigenen Bett aufgewacht, nichts passiert ist. Detrez befindet sich jäh in auffallend seelischer Schieflage und weiß nicht, wie er sich all die Kuriositäten erklären soll.
Der zweite Teil nimmt, etwas überraschend, den Faden des Vorgängerromans auf (der Toussaint–Leser erinnert sich), es geht um Jeans moralische Gemütslage nach dem Tod des Vaters. Erzählt wird nun ausführlicher von dem sehr ambivalenten Verhältnis zu einem Mann, der einst selbst Europakommissar war und sich stets bevormundend und überheblich zeigte. Die oft unerklärlichen Brüche und Verwerfungen im Leben des Jean Detrez ziehen sich wie ein roter Faden auch durch diesen Teil, werden schließlich wieder manifest im Zerwürfnis mit Diane, einem Verhältnis, das sich nur noch in Ritualen erging und in dem für ihn niederschmetternden Statement mündete, dass sie ihn nicht mehr liebe.
Äußere Faktoren spielen auf einmal auch eine Rolle: Nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans (der mit dem unaussprechlichen Namen) muss Detrez eine plötzlich aufscheinende Flugangst bewältigen. Wieder ist eine Frau mit von der Partie, diesmal eine Spanierin. Eine heillos überstürzte Flucht der beiden quer durch das Berlaymont–Gebäude, Sitz der Europäischen Kommission, gerät zu einer skurrilen Verfolgungsjagd; beide „neutralisieren“ ihre Ängste hernach in einem wohl als Synthese zu erachtendem Ort, d.h. ganz profan in einem Hotelbett.
Allen drei Erzählsträngen ist gemein, dass sie einen zutiefst verunsicherten Protagonisten zeigen, der seine (Titel gebenden) Gefühle nicht mehr im Griff hat und nach Halt sucht. Psychologisch ist ohnehin interessant, wie Detrez die ihm geltenden Zeichen nur mit dem Preis hoher Verunsicherung und einer damit einhergehenden Fehlerquote „dechiffriert“. Die auftauchenden Frauen spielen bei seinem Gefühlschlamassel eher die Rolle klassischer Unruhestifterinnen; die Frage indes, warum ihr Verhalten ihm plötzlich unklar oder gar mysteriös erscheint, bleibt offen. Sind die geschilderten Verunsicherungen womöglich eine Besonderheit seines zunehmenden Alters? Werden seine Gewissheiten von außen neu kalibriert? Wir erleben einen Mann, der emotional auf eine heillose Achterbahnfahrt geraten ist. Sein doppeltes Pech: Wir sehen ihm genüsslich dabei zu.
Jean–Philippe Toussaint: Die Gefühle. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt, 2021, 242 S., 22.-€
aus biograph 11/2021
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