Das Genre des Familienromans erscheint in letzter Zeit ein wenig strapaziert, offenbar gibt es nicht nur hierzulande immer wieder (schriftstellerischen) Anlass, die eigene familiäre Entourage – Eltern, Geschwister etc. – genauer unter die Lupe zu nehmen, dies am besten aus einem gewissen Abstand der Jahre, damit auch nichts mehr anbrennen kann oder Vorwürfe nicht zu Zerwürfnissen führen. Von Tolstoi stammt der immer wieder gern (und auch hier) zitierte Roman–Anfangssatz: „All die glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“ (Anna Karenina); wobei hinzufügen wäre: gerade durch diese angedeutete Dysfunktionalität, die unglücklichen Familien strukturell eingeschrieben ist, wird es für Leser auch interessanter – wer will schon als Leser etwas hören von einem generationsübergreifenden Erfolgsmodell?
Hervé Le Tellier, an dieser Stelle schon einmal vorgestellt, ist ein in Frankreich bereits lange durchgesetzter Autor, er hat sich mit dem vorliegenden Buch an seiner eigenen Familie abgearbeitet, dies aber gleich auf eine derart verblüffende und erfrischende Weise getan, dass sich dieses Buch von anderen ähnlichen Rache– oder Legitimationstexten wohltuend abhebt. Als er geboren wird, in den späten 1950er Jahren, wird vieles noch unter der Decke gehalten („Dieser Anfang meines Lebens liegt unter einer undurchsichtigen, unauflöslichen Nebelschicht verborgen, so zahlreich sind die Lügen“), der ganze Mief der Zeit, der damals ja auch auf deutscher Seite sehr eindringlich beschrieben worden war (erwähnt sei nur das Dreiergespann Lenz–Böll–Grass), war in Frankreich im Grunde nicht wesentlich anders. Le Tellier knöpft sich gleich alle vor, verbietet sich aber jede Häme: den Vater, der seine diversen Geliebten „versorgte“ und sich bald vom Acker machte, den Stiefvater, der ein extremer Geizhals war, die Tante, die seine Mutter, die einmal in der Schweiz abgetrieben hatte und ohnehin eine gnadenlose Lügnerin war, nur als Hure bezeichnete, weil sie sich mit einem verheirateten amerikanischen Soldaten eingelassen hatte und von ihm schwanger geworden war. Eine schillernde Familienkonstellation ergibt sich hier, gewürzt mit allerlei Besonderheiten. Es stirbt z.B. der Großvater, dessen Vater aber noch lebt, der ist 95, ihm wird dessen des Sohnes sein Leben lang verschwiegen, er vegetiert Jahre vor sich hin, ohne dass er je davon erfährt. Ständig erfindet Hervés Mutter Lügengeschichten, die den alten Mann ruhig stellen sollen. Diese Mutter bleibt eine zentrale, allerdings auch sehr unsympathische Figur.
Es besticht Le Telliers klare Sprache und Diktion. Auf originelle Weise verbindet er die Imagination der Kinderjahre seiner Mutter mit Alltagsphänomenen wie der Pariser Infrastruktur und/oder der französischen Literaturgeschichte („Die Place de Clichy, an der sich ihre Schule befindet, ist das Tor zum Paris Louis–Ferdinand Célines…“). Eher nebenbei schildert er das Paris unter der deutschen Besatzung, die Deportationen, Dinge im Übrigen, an die sich seine Mutter nicht erinnern kann – oder will. Und das ist der Punkt: Er bürstet die Informationen quasi gegen die wie auch immer zu bewertende Amnesie seiner Mutter, ergänzt das Bild ihrer Erinnerungen um die wirklich relevanten Details.
So ist sein Familienroman trotz aller autobiografischer Momente am Ende ein familienanalytischer Roman, die Familie erscheint als Mikrokosmos von Neurosen und Abgründen und ist doch etwas, das man mit sich trägt wie die Schnecke ihr Haus. Alles bleibt individuell wie kollektiv gültig, jeder kann sich hier gespiegelt sehen.
Hervé Le Tellier: All die glücklichen Familien. Roman. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. DTV, München 2018, 186 S., 20.-€
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