Der Untertitel des mittlerweile hundert Jahre alten Romans „Ariane“ von Claude Anet (1868–1931) lautet „Liebe am Nachmittag“, er könnte die Vorlage für die gleich lautende Verfilmung durch Eric Rohmer von 1967 gewesen sein, hat aber damit nichts zu tun. Modern erscheint er zumindest auf den ersten Blick, Anet hat seinem in Russland spielenden Liebesroman durchaus diskutable Aspekte mitgegeben: Eine junge hübsche Frau, fast noch ein Mädchen, verdreht den Männern den Kopf und lässt sie reihenweise abblitzen, bis der Eine kommt, an dem sie sich dann selber abarbeitet. Was ist sie also? Eine Femme fatale? Gar eine frühe Feministin? Ach was, alles ist viel profaner.
Die 17–jährige Ariana – ihre Mutter ist tot, ihr Vater hat wenig Einfluss – lebt bei ihrer Tante Warwara, über die in der Stadt (Moskau) breit getuschelt wird, hat sie doch stets ein Kontingent von Liebhabern. Süffisant heißt es von ihr: „Sie blieb ihrem Geliebten treu, bis sie von einem neuen Mann fasziniert war.“ Auf die junge Ariane hat sie, wenn sie die Vorzüge oder Eigenschaften ihrer Liebhaber schildert, einen bald fatalen Einfluss. Denn tatsächlich geraten immer wieder unterschiedliche Männer in ihre Entourage und alle scheinen regelrecht verrückt nach ihr zu sein, sie hingegen macht sich einen Spaß daraus, sie zu düpieren. Man fragt sich, was der Grund ist: Ihre Unreife, ein Hang zum Spiel, ein Gefühl der Überlegenheit? Einmal heißt es, sie empfinde Lust, „die stabilsten Verbindungen (…) und glückliche Ehen (…) zu zerstören“. Ein destruktiver Charakterzug also, der auch beim zweiten Hinsehen nicht zu entschärfen ist.
Nun betritt ein gewisser Konstantin die Bühne. Er ist Anfang dreißig, bietet ihr eine befristete Beziehung an, er selbst sei nicht frei, sagt er, aber das mache ja nichts, Hauptsache, man verliebe sich nicht, Spaß solle man miteinander haben. Vor dem ersten Beischlaf stellt sie wiederum seltsame Bedingungen: „Es darf kein Licht an sein, und ich stelle mich tot.“ Leidenschaft oder nur Interesse ist dem nicht zu entnehmen.
Zunächst scheint die wechselseitige Abmachung aber zu funktionieren. Erst mit der Zeit schälen sich zwei ausgemachte Neurotiker heraus, vor allem Ariane erweist sich als völlig empathielos („Mitleid und Liebe tat sie gnadenlos spöttisch ab“); immer wieder kokettiert sie damit, anderweitig fremdzugehen. Er hingegen täuscht eine Selbstsicherheit vor, mit der er ihren Grillen, ihrer Unreife, zu begegnen versucht. Sie behauptet, er würde in ihr „Beuteschema“ passen (der deutsche Ausdruck ist, da viel zu modern, ein klarer Missgriff), aber stimmt das überhaupt – all diese Männer, die sie zuvor gehabt haben will? Auf ihre Eskapaden reagiert Konstantin mal gereizt, mal gleichgültig, schließlich erkennt er in ihr ein „leichtes Mädchen“. Doch statt einzusehen, dass, wie man es dreht und wendet, das Ganze ein einziger wechselseitiger Irrtum gewesen ist, machen sie einfach weiter. „Sie küssten sich ohne Leidenschaft, wie man eine ungeliebte Arbeit hinter sich bringt.“ Wie bitte?
Ariane ist flatterhaft, widersprüchlich, unseriös. Loslassen kann sie aber nicht, und plötzlich nennt sie Konstantin ihren „Märchenprinzen“, wie überhaupt die Geschichte mit zunehmenden Anleihen beim Kitsch– oder Trivialroman ihre (vermeintlich) emanzipatorische Grundaussage recht schnöde sabotiert. Am Ende bleibt ein eher pathologischer Befund: Man diagnostiziert in der permanenten Dekonstruktion des Liebesdiskurses eine neurotische Ich–Bezogenheit und eine Erkaltung des Herzens. Dass im letzten Moment, als Konstantin, vor ihr fast flüchtend, bereits im Zug nach Sankt Petersburg sitzt, sich beide aber noch happy–end–konform in die Arme fallen, setzt dieser verkorksten Liebesgeschichte die (falsche) Krone auf.
Claude Anet: Ariane. Liebe am Nachmittag. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Kristian Wachinger. Dörlemann Verlag, Zürich 2021, 269 S., 23.-€
(aus biograph 5/2021)
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