Die Schriftstellerin Delphine steckt in einer Schaffenskrise. Nach einem großen Verkaufserfolg, einer autobiographisch inspirierten Enthüllungsgeschichte, will ihr nichts rechtes mehr gelingen, keinen Satz kriegt sie mehr zusammen, der Bildschirm mit dem blinkenden Cursor verursacht ihr nur noch Brechreiz. Sie lernt L. kennen (man erfährt nie ihren vollständigen Namen, phonetisch entspricht L. dem französischen „elle“), eine Frau in ihrem Alter, die sich auffallend stark für Delphines Leben interessiert, sich aber auch einfühlsam zeigt. Sie hat, wie Delphine bemerkt, „die Gabe, die richtigen Worte zu finden“. Beide sehen sich fortan häufiger, doch L. nimmt allmählich auch immer stärkeren Einfluss auf die eher ahnungslos agierende Delphine. L. kann sogar mit einem vermeintlich gemeinsamen Klassenfoto aufwarten – nur dass L. gar nicht darauf abgebildet ist: sie sei an dem Tag damals krank gewesen, behauptet sie, und die naive Delphine gibt sich sogar noch damit zufrieden.
Als dann die leidlich genesene Schriftstellerin ankündigt, als nächstes etwas Fiktionales zu schreiben, ist L. nicht nur enttäuscht; sie verlangt „Wahres“ von ihr: „Das Schreiben muss eine Suche nach der Wahrheit sein, sonst ist es nichts.“ Tatsächlich gerät Delphine immer stärker unter ihren Einfluss, kann bald nichts mehr ohne sie unternehmen, L. „verschmilzt“, wie es heißt, mit ihrem Leben – und nutzt das aus: diese obskure und manipulative Stalkerin zieht sogar bei ihr ein, angeblich übergangsweise.
Es mehren sich nun die Anzeichen von Mimikry, einer Anpassung an das Leben und Verhalten Delphines: L. trägt die gleiche Kleidung, übernimmt ihre Gesten, erledigt für die nach wie vor unsicher auftretenden und von Panikattacken gequälten Delphine deren Korrespondenz, verschickt aber auch gefälschte e–mails, was bis hin zu einer Lesung in ihrem Namen geht. Keinem der dort Anwesenden scheint etwas aufzufallen. Vorläufiger Gipfel dieser feindlichen Übernahme ist ein von L. verfasstes Manuskript an die Adresse von Delphines Lektorin – die sich begeistert zeigt, dass Delphine ihre Schreibblockade endlich überwunden und ein mehr als brauchbares Manuskript abgeliefert habe; jeglicher Protest seitens Delphine prallt an ihr ab. Weitere Volten stehen an in diesem ebenso unterhaltsamen wie vielschichtigen, auch ein wenig beklemmenden Buch. Am Ende verschwindet L. aus Delphines Leben und verwischt auf geradezu professionelle Weise alle Spuren. Es ist, als hätte L. nie existiert, als hätte Delphine sich alles nur ausgedacht.
Bestimmte Filme (mit literarischen Vorlagen) fallen einem hier zwangsläufig ein: „Misery“ etwa, wo ein Schriftsteller (James Caan) von einem durchgeknallten Fan (Kathy Bates) eingesperrt und brutal drangsaliert wird; und nicht zuletzt „Der talentierte Mr. Ripley“, wo Ripley (Matt Damon) nach einem festen Plan seinen vermeintlichen Freund Dickie tötet und dessen Identität annimmt...
Souverän, dabei im Grunde nur beiläufig, jongliert de Vigan mit einem Lieblingsthema des Literaturbetriebs (Stichwort „Autofiction“: der spielerische Umgang und die Verwischung von Biographie, Wahrheit, Fiktion). Ihr Buch, 2015 in Frankreich mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet, erhält besondere Aktualität und Brisanz durch den derzeit viel diskutierten „Identitätsdiebstahl“, dem Persönlichkeitsmissbrauch im Internet. Sie hat für die latente Gewalt, aber auch für die zersetzende Kraft, die hinter einer solchen Attacke steckt, ein verstörendes Beispiel vorgelegt.
Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte. Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont Verlag, Köln 2016, 348 S., 23.- €
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