Die im Dezember 2021 verstorbene Joan Didion galt als eine Ikone des sogenannten „New Journalism“, einer journalistischen Spielform, die, verkürzt formuliert, subjektive Meinungen oder Stimmungen nicht ausblendet, sondern in die Berichterstattung miteinfließen lässt. Ihre soeben in zwei Bänden wieder aufgelegten und neu übersetzten Essays und Dokumentationen sind in Inhalt und Diktion ein prägnantes Beispiel für diese Art des Schreibens. Vornehmlich in ihren Gesprächen gelingt es Didion, Beiläufiges zu etwas Substanziellen, Allgemeinen, zu stilisieren und den vermeintlich banalen Statements eine übergeordnete Gültigkeit zu verleihen, in der sich, mit subtilen Kommentaren unterfüttert, zugleich eine Gemengelage amerikanischer Befindlichkeiten zum Ausdruck bringt. Man hat oft das Gefühl, dass man es bei allem historischen Hintergrund mit etwas Zeitlosem zu tun hat.
Die in beiden Bänden versammelten Aufsätze stammen vornehmlich aus den 1960er und 70er–Jahren, in denen Didion einzelnen konkreten Erscheinungen amerikanischer Lebens – oder Denkweise nachgeht und dabei zu individuellen Abstraktionen bzw. Dekonstruktionen ansetzt. Dabei bleibt sie aber immer klar und bodenverhaftet. Neben atmosphärischen Bezügen zur zeitgenössischen Popmusik (Joan Baez, Jim Morrison, Grateful Dead) oder zum Film (immer wieder gerne Hollywood: John Wayne, Howard Hughes) referiert sie auf die dem Land tief eingeschriebenen Mythen.
Sie ist bei diversen Gerichtsprozessen dabei, kann über den berühmten Mason–Prozess 1969 um die Ermordung Sharon Tates berichten und vermag die Stimmung gut wiederzugeben, in der nach der Tat wirre Opferzahlen kursieren und sie sich wundert, dass drumherum „niemand erstaunt war“. Oder aber sie erzählt, leicht irritiert, von einem Kontrollzentrum, das irgendwo in Kalifornien einen Highway überwacht und das sich müht, für Verstopfung zu sorgen, den Verkehr also zum Erlahmen zu bringen, damit in der Konsequenz die Leute ihr Auto stehenlassen und Fahrgemeinschaften gründen; klarer „bürokratischer Terrorismus“, so ihr Urteil. In dem Essay „Brave Bürger“ berichtet sie von einer Clique reicher Leute, die gegen alles für sie Missliche, überhaupt Veränderungen jeder Art, die Augen verschließt: „Die Ehefrauen waren anmutig und duldsam. Gemeinsam etwas zu trinken bedeutete schon ein Cocktailempfang. Regen war flüssiger Sonnenschein und die Wahl des Tisches zum Abendessen war eine gewichtige Entscheidung“. Das ist klassischer Didion–Sprech, ihre Kritik an der beschriebenen gesellschaftlichen Kaste erscheint leise, ist aber unüberhörbar süffisant.
Dabei kann sie auch anders: In der Titelstory aus „Slouching Towards Bethlehem“ fängt sie das Lebensgefühl kalifornischer Hippies federleicht ein, indem sie die Protagonisten einfach reden lässt. Ihr gelingt so das leicht ironische, aber nie abgehobene Porträt einer orientierungslos wirkenden Generation: Sie trifft auf Jugendliche, die von zu Hause „abgehauen“ sind und sich ständig Drogen (vorzugsweise LSD) reinziehen, davon träumen, nach Afrika oder Indien zu gehen, um von dem zu leben, was, so beschreibt es einer der Interviewten, „der Boden hergibt, (…) Wurzeln und so“. Da beklagt Didion, dass diesen jungen Menschen die Fähigkeit selbstständigen Denkens komplett abgeht: „Kinder, die sich damit zufriedengeben, zu sagen, sie kämen „aus einem kaputten Elternhaus“, wenn sie sagen wollen, dass sich ihre Eltern getrennt haben, machen mich nicht sehr zuversichtlich (…), eine Armee von Kindern, die darauf wartet, dass man ihnen Worte gibt.“ Eher selten gibt sie sich, wie hier, vergleichsweise konservativ und kulturpessimistisch, ihre latent bissigen Kommentare aber hallen nach.
Joan Didion: Das weiße Album. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Antje Rávik Strubel. Ullstein Verlag, Berlin 2022, 349 S. – Dies.: Slouching Towards Bethlehem, 365 S., beide je 22,99 €.
aus biograph 12/2022
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