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Fußball ist Ablenkung vom Tod

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Wenn sich ein Romancier wie der renommierte Jean-Philippe Toussaint dem ultimativ profanen Thema Fußball zuwendet, stutzt man zunächst. Was soll man der gefühlt zweitältesten Sache der Welt noch groß abgewinnen können? Wie es aussieht, eine ganze Menge, ständig ergeben sich neue Facetten. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang nur an diese Meldung: Vor kurzem schaffte es „Fußballgott“ Lionel Messie auf die erste Seite der Süddeutschen Zeitung aufgrund eines „listigen Strafstoßes“; im Grunde war das Ganze eine abgefeimte Form der Verarschung. Die ganze Fußballwelt diskutierte im Anschluss über die womöglich tiefere Ethik dieses Frevels: Darf man einen Gegner derart düpieren? Oder war das einfach nur arrogant? Wie aus heiterem Himmel zerfiel die Weltgemeinschaft plötzlich in zwei gegensätzliche Lager, Pro und Contra, Sein und Kann–nicht–Sein.  
Toussaint geht in seinem schmalen Büchlein einer Reihe von fußballspezifischen Einzelphänomenen nach. Gerne vernetzt er  seine emphatischen, durchaus auch mal philosophischen Statements mit der eigenen Autobiographie (was er ziemlich cool hinbekommt). Das Muster kennt man von ihm: Wo auch immer seine Romane spielen, stets verstehen sie sich als ein Stück Aufbereitung eigener Geschichte. Und wie immer ist Toussaint auch ein Meister der Abschweifung.
Zu seinen philosophischen Betrachtungen gehört, dass er das Fußballschauen begreift als „eine Art metaphysischen Wohlbefindens, das uns von unserem Elend und unseren Gedanken an den Tod ablenkt“. Fußball müsse man „sofort verzehren“, Wiederholungen im Fernsehen schaue man sich nicht an – was ihn etwa dazu bringt, fast heideggerisch über „Fußball und Zeit“ zu sinnieren und zu schlussfolgern, dass einem, während man Fußball gucke, nichts passieren könne.
Toussaints große Schwäche für Japan, die Kultur und Sprache dieses Landes, wird während der WM 2002, die er dort live miterlebt, auf die Probe gestellt. Natürlich ist er in den Stadien dabei. Er entdeckt, dass Fußball keine überwiegend männlich durchsetzte Veranstaltung ist, dass man es vielmehr mit einem „feinfühligen, intelligenten und kultivierten“ Publikum zu tun hat, das aus dem schnöden Event ein friedliches Familienfest ableitet. Toussaint ist in Japan aber vornehmlich aus beruflichen Gründen, hat Vorträge zu halten. Einmal kollidiert sein Vortrag mit dem Anpfiff der belgischen Mannschaft. Geradezu panisch läuft er am Ende los, um einen öffentlichen Fernseher ausfindig zu machen – und landet vor einem schnöden Radio. Das Ganze bekommt eine theatralische, ja leicht tragische Note.
Das zeigt sich auch in dieser Szene: Im Sommer 2014 weilt er in seinem Haus auf Korsika, zum ersten Mal muss er sich mit neuer Technologie auseinandersetzen, muss die Spiele auf seinen Computer streamen. Kurz vor einem Elfmeterschießen im Halbfinale versagt die Technik, das Bild erstarrt. Wieder durchlebt der Mann die schiere Verzweiflung. Ein Blitzeinschlag in unmittelbarer Nähe und der damit einhergehende Stromausfall machen auch dem in der Küche aufgestöberten Transistorradio noch den Garaus, ein batteriebetriebener Ersatz bringt ihn zumindest noch zu einem italienischen Live–Sender, doch bekommt er, da der Sprache nicht mächtig, allenfalls Brocken vom Geschehen mit. Er steigt, als alles vorbei ist, die Stufen hinauf zu seiner Frau Madeleine, die lange schon im Bett liegt und nur schlaftrunken fragt: „Ist der Fußball vorbei?“ Tja. Weiber. Typisch. Nichts hat die Frau verstanden (oder nur begreifen wollen) von den Abgründen, existenziellen Ängsten, ja Panikattacken, denen ihr Mann – unverantwortlicherweise alleingelassen – so lange ausgesetzt war.

Jean-Philippe Toussaint: Fussball. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2016,  122 S., 17.90 €

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