Zu Anfang dieses fast 1000–seitigen Romans des US–Amerikaners Upton Sinclair (1878–1968) ahnt man noch nichts von den multiplen Abgründen, die sich im Laufe der Lektüre auftun sollen. Da sieht alles zunächst nach aristokratischen Befindlichkeiten am Anfang des 20. Jahrhunderts aus: Ein betuchter Industrieller, Josiah Thornwell, stirbt, die Familie behakt sich wegen des Erbes, einzelne Figuren zeigen ihr wahres Gesicht. Doch dann ist es die Witwe, Cornelia, eine Frau von immerhin Anfang sechzig, die den Tod ihres Mannes als eine Chance zur allumfassenden Emanzipation begreift und sich komplett von der Erbengemeinschaft, d.h. auch von ihren Kindern, verabschiedet. Kaum vorstellbar, und doch ist es so – diese blaublütige, finanziell eigentlich sorgenfreie Frau sucht nach körperlicher Arbeit. Die wirtschaftliche Lage im Lande ist freilich prekär, sie landet in einer Seilfabrik und bezieht ein Zimmer zur Untermiete. Ein Mitbewohner dort ist Bart Vanzetti, Einwanderer aus Italien, Fischverkäufer, Anarchist und Träumer vom besseren Leben für alle. Cornelia freundet sich mit ihm an und übernimmt in der Folge auch viele seiner Theorien.
Vanzetti beteiligt sich, wie später auch sein Landsmann Nicola Sacco, an mehreren Streiks, beide werden 1920 wegen eines stattgefundenen Überfalls und Mordes festgenommen. Es ist der Beginn einer gnadenlosen Kommunistenjagd im Bostoner Raum, bei Demonstrationen knüppelt die Polizei nur so darauf los, es gibt viele Festnahmen und Tote.
Wie sich bald herausstellen soll, sind sämtliche Anschuldigungen gegen die beiden Männer erfunden, die Gesellschaft aber verlangt nach Sündenböcken, und die Richter kommen dem nach. Es beginnt der lange Weg durch die Instanzen. Cornelia hilft Vanzetti, wo sie kann, quält sich durch etliche Behörden, um seine Unschuld zu beweisen. Sollte diese – gewiss naiv auftretende – Frau anfangs noch an das Funktionieren der Justiz geglaubt haben, so wird sie nun eines Besseren belehrt. Hinweise auf Korruption und Machtmissbrauch häufen sich, die moralisch verkommene Bostoner Oberschicht gehörte mit auf die Anklagebank. Auch die Zeugen erscheinen vollkommen unglaubwürdig, die Geschworenenjury manipuliert. Vom zuständigen Richter Thayer heißt es: „(…). Thayer wusste genau, welche Geschütze er auffahren musste, um die Yankees auf der Geschworenenbank in ihren Vorurteilen zu bestätigen, ohne dass sie davon etwas merkten.“ Der ganze Prozess gerät schließlich zu einer an der Haaren herbeigezogenen Posse.
Erste Urteile ergehen, die nach gewissen Interventionen, nach Berufungen etc. erst einmal wieder aufgehoben werden. So zieht sich die Sache über Jahre hin, wobei immer wieder juristische Spitzfindigkeiten aufleben und damit Verzögerungen generieren, zudem werden etwaige Entlastungszeugen desavouiert. Die stets mutig auftretende Cornelia kämpft hilflos gegen ein total verlottertes System. Am Ende, d.h. nach sieben Jahren quälenden Prozessierens, landen beide Männer auf dem elektrischen Stuhl. Wilde Proteste und Demonstrationen weltweit ändern daran nichts.
Vor allem gegen Ende fällt dieses voluminöse Buch, wie kaum anders zu erwarten, etwas langatmig aus. Die sich wiederholenden Abläufe im juristischen Strafprozess werden minutiös beschrieben, dies würde heute in keinem Lektorat mehr ungekürzt durchgehen. Aber Sinclair will auch untermauern, wo er moralisch steht, die dokumentierten Machenschaften der oberen Gesellschaft scheinen ihm extrem zuwider gewesen zu sein. Das Buch stellt sich somit komplett in den Dienst der Sache. „Engagierte Literatur“, hätte Sartre gesagt.
Upton Sinclar: Boston. Ein zeithistorischer Roman. Neu aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Viola Siegemund. Manesse Verlag, Zürich 2017, 1025 S., 42.- €
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