Bei Holger Runge ist die Kunst ganz einfach, wie selbstverständlich und ebenso von Heiterkeit durchdrungen wie sachlich präzise und aufmerksam, voller Respekt schon den Werkstoffen und ihrer Materialgerechtigkeit gegenüber. Eine verknappte weiße Holzfigur tritt aufrecht durch die unruhig vibrierenden Lamellen einer Wand, eingefasst in ein Hochrechteck, das diese als Tür definiert. Dazu sind die Streifen unterbrochen, so dass die Helligkeit die Figur umhüllt. Das Ausschreiten dieser prototypischen Gestalt vermittelt das Überschreiten einer Schwelle als selbstbewusster Schritt in die Gegenwart, wie ein Schatten, der zu leben beginnt.
Holger Runge kommt in seiner Arbeit, die sieben Jahrzehnte umfasst, beständig auf Grundsituationen menschlichen Daseins zurück. Vorgetragen wie auf einer Bühne, sind die Szenen abstrakt genug, um Allgemeingültigkeit zu vermitteln, und hinreichend konkret, um verbindlich zu sein. Ausschweifend ist Runges Kunst sowieso nicht, ganz gleich, ob es sich um die Radierungen, die Skulpturen und Materialbilder oder daneben, ab 1972, die gezeichneten, gemalten Bilder auf Landkarten, Stadtplänen und geologischen Karten handelt. Runge reagiert intuitiv auf Vorgefundenes und arbeitet in seinen Bearbeitungen und Montagen Assoziationen heraus. Am Schluss führt es eigentlich immer zur Figur. Er findet Hölzer am Wegesrand, Holzblöcke und ausrangierte Metallteile in der Scheune. Oft reichen minimale Ergänzungen und das Zur-Schau-Stellen etwa von Eisengussteilen aus, um Figurationen, Tierwesen zu erschaffen. Er belässt diesen Dingen und Formen teilweise ihre verwittert spröde Oberfläche wie eine Haut, die das Eigene zeigt und das Innenleben schützt. Dann wieder sind Drähte so verschlungen, dass sie tänzerische Figurationen ergeben. Runge übersetzt die Anspielung in Handlung und erweckt die Formkombinationen zum Leben. Die Figuren in den Objektkästen wirken in ihrem Gestus als würden sie an Fäden gehalten, ihre Fragilität geht jedoch mit Robustheit einher. Dabei gewinnen sie einen narrativen Ausdruck hin zur Individualität, etwa wenn ein schlankes Stabbündel sich in eine Ecke zurücklehnt und die Arme verschränkt. Oder wenn sich eine massige Figur blockhaft archaisch und mechanisiert zugleich auftürmt, einmal streng organisiert und durch die Symmetrie unterstützt, dann wieder lapidar, spielerisch aus Teilen in unterschiedlichen Materialien aufgebaut. „Poetisch in aller formenden Strenge und komödiantisch auch in der Nachdenklichkeit“, hat Franz Joseph van der Grinten zu diesen Figuren geschrieben (Kat. Bremerhaven 1979). Vor allem mit ihnen ist Runge in Deutschland und in Holland bekannt geworden, zuerst und besonders am Niederrhein. In Düsseldorf hat er bei Hans-Jürgen Niepel ausgestellt.
Holger Runge wurde 1925 in Weimar geboren. Er hat dort an der Hochschule für Bildende Künste und ab 1948 in Düsseldorf an der Kunstakademie, in der Grafikklasse von Otto Coester studiert. Später ist er hier selbst Lehrbeauftragter und danach – wie passend – Dozent für Marionetten- und Musikinstrumentenbau am Werklehrerseminar in Düsseldorf. Bereits 1963 hat er die Osterather Radiergemeinschaft begründet, zunächst mit Hans und Franz Joseph van der Grinten, die bei ihm in seinem Haus in Bovert die handwerklichen Techniken an der Radierpresse erlernen. Bald schließen sich weitere Künstler an, darunter Erwin Heerich, Gottfried und Martel Wiegand, Rolf Crommenauer, Karl Burgeff sowie die Schweizer André Thomkins, Franz Eggenschwiler und Alfonso Hüppi. Hier wird ausprobiert und gearbeitet, diskutiert und gefeiert. „Zuerst sitzen die Männer in einem Atelier im Erdgeschoss des Einfamilienhauses. 1972 zieht der Kreis in ein größeres und helleres Atelier im oberen Geschoss. Zuvor war ein zweites Stockwerk auf das Flachdach aufgesetzt worden. ‚Jeder hatte da seinen festen Platz‘, sagt Holger Runge.“ (Andreas Speen, Mehr in Meerbusch 10.10.03)
Die Treffen bei Runge fanden unregelmäßig und schließlich in immer größeren Abständen, dafür über mehrere Tage hinweg statt, ehe sie 1986 versiegten. Eine wesentliche Rolle bei der Beschäftigung mit der Druckgraphik spielten das Klima von Joseph Beuys und das Milieu, in dem auch Holger Runge seine eigene Kunst erstellt: die Lage zwischen Düsseldorf mit dem großstädtischen, internationalen Kunstgeschehen und dem Niederrhein mit seiner geringen Besiedlung, Weite und landwirtschaftlichen Ausrichtung. Dort ist jetzt gerade eine Ausstellung der Künstler und Künstlerinnen der Radiergemeinschaft mit Schwerpunkt auf Holger Runges Werk zu sehen: im Museum Katharinenhof in Kranenburg, wo die Brüder van der Grinten gelebt und ihm 1968 seine erste Einzelausstellung eingerichtet haben.
Holger Runge selbst hielt sich bei den Radier-Abenden zurück und assistierte vielmehr seinen Gästen. Aber die Radierung – im besonderen die Aquatinta – steht ganz am Anfang seiner Kunst und sie begleitet ihn konstant. „Ich sollte nun doch mal wieder damit anfangen“, hat Holger Runge in einem Brief von 2004 geschrieben. Er versteht die Radierung nicht als Medium zur großen Verbreitung, sondern druckt in geringer Auflage mehrere Zustände, indem er die Druckplatten dazwischen im Säurebad behandelt. Farbe ist gar nicht so wichtig, Grautöne dominieren. Er wendet sich der Linie zu, die a priori eine Grenze zwischen zwei Zonen (wie dann bei den Landkarten-Bildern) markiert, sich in Frottagestrukturen organisiert oder doch Formen konturierend definiert oder frei, ungebunden abstrakt in feinsten Gespinsten und wolkig umfangen im partiell unberührten Bütten liegt. Hier wie bei den Skulpturen dominiert das kleine Format, in dem sich um so mehr die feinen Details behaupten.
Nur einmal ist Holger Runge ins große, monumentale Maß gegangen: bei zwölf Materialplastiken, die er 1991 im Openluchtmuseum in Antwerpen ausgestellt hat, also mitten im Wald, auf Lichtungen und an Wegen. Auch hier kommt er in verschiedenen, dieser Gegend entstammenden Fundstücken und Materialien auf den Menschen, seine Handlungen und seine Behausung zurück, sei es dass er zwei Stiefel unter das Bruchstück eines Scheunentors gehängt hat („Wandertor“) oder an dem oberen Ende eines aufragenden Stammes Äste als Geweih und davor einen Eimer befestigt hat, während etwas darunter ein horizontaler Stamm symmetrisch in einem langen Wanderstab und einer (stilisierten) Harke enden („Hirschmann mit Jagdtrophäe“): Aus dem Winzling der Materialkästen wurde diesmal, nicht minder hinreißend, ein Riese.
„Die Osterather Radiergemeinschaft. Holger Runge und seine Freunde“,
bis 29. Januar im Museum Katharinenhof in Kranenburg, Fr-So 14-17 Uhr,
www.museumkatharinenhof.de
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