So etwas findet sich selten: ein Text, über 100 Jahre alt und streckenweise so unglaublich cool daherkommend, als käme er direkt aus der Werbeabteilung der Nachwuchskreativen. Umso erstaunlicher das Ganze, als es dabei um schnödes Autofahren geht. Nur von wegen schnöde: ein Auto vor gut hundert Jahren war unvorstellbarer Luxus und bei weitem kein inkriminiertes Massenprodukt wie heute. Der Charron, mit dem Octave Mirbeau (1848-1917) sich auf die Reise begab – hinter dem seltsamen Titel des Buches verbirgt sich nichts anderes als das Kennzeichen seines Wagens – wäre, dies nur am Rande, nach heutiger Rechnung ein Auto im Wert von 30.000 Euro. Mirbeau selbst ist Anfang des 20. Jahrhunderts ein bekannter Schriftsteller in Frankreich, er macht sich auf, die Nachbarländer weiter östlich zu besuchen, um Studien über die dort herrschenden Sitten und Gebräuche zu betreiben.
Im Jahre 1905 geht’s los; nacheinander bereisen er und sein Fahrer bzw. Mechaniker Belgien, Holland und Deutschland. Was folgt, ist eine von hedonistischer Begeisterung und Leidenschaft geprägte Eloge auf das Auto – der Wagen eine Chiffre der Freiheit und zugleich ein bestauntes Phänomen, das überall seine Gaffer an sich zieht. Mirbeau preist den Rausch der Geschwindigkeit (ganze abenteuerliche 50 km/h im Schnitt!), wenn er dieses „Rasen“ auch schon selbstkritisch eine „Geisteskrankheit“ nennt, bei der geplatzte Reifen und haufenweise überfahrene Tiere eher als Kollateralschäden verbucht werden. Eine Szene im Verlauf der Reise wirkt dabei besonders skurril: nicht er selbst, aber ein anderer Autofahrer überfährt ein Mädchen, das, wie sich bei genauerer Begutachtung herausstellt, leider mausetot ist. Der greinenden Mutter verklickert der Übeltäter allerdings wie der Vorstandsvorsitzende von Mercedes, dass dies eben der Preis der Modernität sei und das Mädchen „eine Märtyrin des Fortschritts“ – fraglich, ob er heute damit durchkommen würde. Und es gibt eine Reihe derartiger himmelschreiender Szenen, Mirbeaus süffisante Einlassungen wirken dabei oft erstaunlich zeitlos (schon damals allerdings galt: „Der Radfahrer ist der schlimmste Feind des Autofahrers“). Die einzelnen Länder beäugt er kritisch und er macht aus seinen subjektiven Einschätzungen keinen Hehl. Seine Porträts sind oft ironisch, wenn auch ab und zu etwas klischeebedingt.
Wie einst auch Baudelaire schimpft er etwa auf Belgien („Brüssel ist die Parodie einer Stadt“, und es herrsche „religiöse Malaria“ im Land), und als er nach Deutschland kommt, gelangt er als erstes nach Düsseldorf, was auch nicht ohne Pikanterie ist: da rümpft er, als er zu Anfang im Breidenbacher Hof absteigt, die Nase über „die Modern-style-Stadt par excellence“. Später entschuldigt er sich und lobt „das Arrangement ihrer Parks, ihrer Balkons, die Grazie ihrer Gärten, wo das Grün, die Blumen und die Bassins sich zu zauberhaften Kulissen fügen“. War wohl eine Zeit vor den stadtprägenden Baustellen. Geradezu begeistert ist er von Straßburg, der Stadt, damals vorübergehend deutsch, „der man nur deutsches Blut einimpfen musste, damit sie sofort diese Kraft und diese Pracht gewann“. Und ein Elsässer, den er trifft, meint sogar, die Deutschen hätten ihnen „Sauberkeit und Hygiene“ beigebracht. Kaum vorstellbar, dass seine Landsleute derartige Aussagen besonders geschätzt haben könnten.
Octave Mirbeau: 628–E 8. Aus dem Französischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Wieland Grommes. Weidle Verlag, Bonn 2013, 593 S., 29 €
aus biograph 10/2013
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