In den letzten Monaten wurde in den hiesigen Feuilletons der letztjährig mit dem Prix Goncourt geadelte Roman Nicolas Mathieus „Wie später ihre Kinder“ als ein soziologisch relevantes Dokument quasi aller aktuellen Missstände Frankreichs gedeutet (obwohl der Roman in den 1990–er Jahren spielt), Missstände, die etwa der rechtsradikale Front National oder zuletzt die Protestbewegungen der „Gelbwesten“ lautstark für sich zu nutzen wussten. Diese politische Zuweisung erscheint nach Lektüre dieses über 400 Seiten–Romans allerdings eher fragwürdig. Zwar stimmt es, dass Mathieu sich die sozialen Rahmenbedingungen einer Gruppe spätpubertärer französischer Jugendlicher in einem kleinen Städtchen unweit der luxemburgischen Grenze genau angesehen hat, dass er die problematischen Knackpunkte, bestehend aus beruflicher Perspektivlosigkeit, Clangehabe und Kleinstadtödnis anhand einer heterogen auftretenden Gruppe von Mädchen und Jungen sehr fein herausgearbeitet hat; doch bilden die geschilderten Umstände a) nicht zwingend ein rein französisches Phänomen ab, und b) sind sie ohnehin nicht neu. Der Roman überzeugt vielmehr durch seine detailgenauen Milieuschilderungen, er beschreibt die (u.a. psychologischen, sexuellen) Nöte, er zeigt auf betörende Weise, wie eine komplette Jugend mit ihrem Leben nichts anzufangen weiß: wohin man sieht, man erlebt die pure Vergeudung von Zeit in einem Kaff, das niemandem je eine Perspektive auf Entwicklung oder Veränderung geben kann. Anthony, Hacine, Steph und Clem – sie alle sind Gefangene einer stark reduzierten Angebotspalette. Erst als sie realisieren, dass all ihre Ersatzdrogen – Koksen, Partys, Sex etc. – sie nicht weiterbringen, beginnt sich in ihrer Wahrnehmung etwas zu ändern.
Bezeichnend dabei, dass auch die Eltern dieser Jugendlichen hier bereits durchresigniert haben, zumeist sind sie daueralkoholisert oder –frustriert, sie können ihren Kindern nichts anbieten. Sie gelten in ihrem Viertel selbst als stigmatisiert: der marokkanische Vater Hacines lebt seit 35 Jahren in Frankreich, spricht aber nur gebrochen französisch, seit der Schließung seiner Stahlfabrik verkriecht er sich in seiner Wohnung und lässt alle sozialen Bindungen fahren, Anthonys Mutter ist in den Häusern des Wohnblocks nur als „die Schlampe“ bekannt. Sämtliche Optionen erscheinen auch für die Elterngeneration prekär, aber um sie geht es nicht; es sind die Jugendlichen, deren Zukunft bereits ultimativ in einer Sackgasse gelandet ist. Anthony, zu Anfang als ein testosterongesteuerter, notgeiler Jugendlicher geschildert, will, als er endlich 18 ist, nur noch weg, doch denkt er nicht in größeren Zusammenhängen, er liebäugelt mit der Armee. Das ist einfach, er wird nach Deutschland versetzt: „Die Armee war ein weiterer geschützter Raum, in dem er sich verstecken konnte.“ Später wird er sein Glück in verschiedenen Jobs versuchen, seine Möglichkeiten bleiben aber jederzeit überschaubar.
Es gibt eine Ausnahme, und es ist, als ob Mathieu habe zeigen wollen, dass doch noch etwas geht: mit dem Mut der Verzweiflung wagt Steph den Ausbruch, mit ihrem Lebenslauf hatte sie ursprünglich keine Chance auf ein Unistudium, dennoch geht sie nach Paris, rasselt zunächst an den Vorbereitungsschulen durch alle Aufnahmeprüfungen, entwickelt aber einen unglaublichen Ehrgeiz. So wird sie erfolgreich. Diejenigen allerdings, die im fiktiven Kaff Heillange geblieben sind, haben nichts zu gewinnen. Und die Politik hat dort nichts verloren, Mathieus Kritik ist eine Kritik an den sozialen, kulturellen, strukturellen Bedingungen; dass hier Le Pen und Konsorten günstiges Terrain vorfinden, mag sein, reicht aber nicht als hinreichender Beleg fürs Abgleiten ins rechtsradikale Milieu.
Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, 2019, 443 S., 24.-€
aus biograph 11/2019
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