Die Amerikanerin A.M. Homes hat ein erkennbares Faible für familiäre oder überhaupt zwischenmenschliche Problemzonen der gehobenen Art, das zeigte vor ein paar Jahren z.B. ihr (im übrigen immer noch lesenswerter) Roman „Dieses Buch wird ihr Leben retten“. In ihrem neuen Werk scheinen vor allem die Gesetze der Interaktion, alle vermeintlich gültigen Parameter des Zusammenlebens, nochmal aufs heftigste durcheinandergemischt, was dem Leser aber einen psychologisch sehr unterhaltsamen Cocktail beschert.
Vordergründig ist es die Geschichte zweier fast gleichaltriger, indes sehr unterschiedlicher Brüder, George und Harry. Wir erleben dabei das Geschehen aus Harrys Sicht, der zunächst schildert, wie er seinen Bruder von der Polizeiwache abholt, wo dieser wegen eines von ihm verursachten Unfalls mit doppelter Todesfolge vernommen wird: ein Elternpaar ist dabei umgekommen, einzig der neunjährige Sohn Ricardo hat überlebt. Ob schuldig oder nicht: dieser George kommt einem schwer gestört vor, unberechenbar, neurotisch, auch ein wenig irre, was in einer späteren Szene sich besonders zeigt: seine Frau Jane baggert niemand anderen als seinen Bruder Harry an, es kommt später auch zum Sex, doch George überrascht die beiden in flagranti. Brutal drischt er auf Jane ein, und sie wird später an den Folgen der Verletzungen sterben. Ihre Organe werden zur Spende freigegeben, was im weiteren auch noch eine gewisse Bedeutung bekommen soll. George wird jahrelang in psychiatrischer Klinik und im Gefängnis einsitzen, aber wir erleben nun Harry, wie er fortan, nachdem alles aufgeflogen ist und auch Claire, Harrys Frau, ihn aus der gemeinsamen Wohnung rausgeworfen hat, sich an seinen tief verwurzelten Schuldgefühlen abarbeiten wird. Das Buch ist im Grunde die Geschichte einer Katharsis.
Harry ist ein gebildeter Mann, arbeitet als Hochschulprofessor und zudem an einer Studie über den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon, sein Vertrag an der Uni wird nach den bekannt gewordenen Vorfällen aber nicht verlängert. Harry nimmt sich der beiden Kinder seines Bruders an, und diese beiden, Ashley und Nate, sind zwei hellwache Kids, die den unerwarteten Elternersatz auch problemlos akzeptieren, Harry letztlich sogar moralisch unterstützen. Nate vor allem wirkt sehr klug, manchmal vielleicht schon ein bisschen zu eloquent für sein Alter. Außer den beiden adoptiert er den kleinen Ricardo, und man erlebt nun hautnah, wie Harry sich qua seiner neuen Verantwortung von Grund auf ändert.
Man folgt seinem Bemühen, die Balance seines Leben (wieder-)herzustellen, was nicht immer ganz einfach erscheint, etwa, wenn willkürlich ausgesuchte Onlinebekanntschaften mit ihren diversen Eigeninteressen in die fragilen psychologischen Prozesse mit hinein spielen. Die Lage bliebt also prekär. „Wir halten fast alles für eine Beziehung, eine Art Gemeinschaft“, heißt es an einer Stelle, „doch innerhalb unserer Familien, unserer echten Gemeinschaften sind wir vollkommen ahnungslos, verursachen Kurzschlüsse und tauchen sofort wieder in der digitalen Welt unter – das ist leichter, weil wir dort zugleich unser wahres Ich und eine Fantasieversion davon zeigen können, und beide wiegen gleich schwer.“ Harry macht dennoch seinen Weg. Nach einem Jahr meint er, dass ihm, wie der Titel sagt, „vergeben“ sein sollte. Und weil ihm das wichtig ist, ist es ihm auch zu gönnen.
A.M. Homes: Auf dass uns vergeben werde. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014, 660 S., 22.99 €
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