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In Zeiten großer Verwirrnis

Die biograph Buchbesprechung von Thomas Laux

Es war die Epoche der ungebrochenen Dualitäten: Beatles versus Stones, „Pelikan“ versus „Geha“, „Sinalco“ gegen „Bluna“, „Lord Extra“ versus „Reval“ oder auch „Eltern“ versus „Jasmin“. Na klar: die 60er Jahre. Wer wie Frank Witzel (aber auch der Autor dieser Zeilen) diese überaus bedenkliche Epoche miterleben – na ja – durfte, der könnte hier flugs noch auf unzählige andere Glaubensbekenntnisse oder Ideologien des Alltags verweisen. Witzel belässt es in seinem 800–Seiten–Opus aber nicht bei der Auflistung epochaler Kuriositäten, die Geschichte seines Protagonisten ist die Geschichte einer Individuation, gepflastert mit unsäglichen Irrwegen und begleitet von einem riesigen Sammelsurium politischer und gesellschaftlicher Brüche und Verwerfungen, die, und das zeigt das Buch auf recht krasse Weise, bei einem damals Pubertierenden heillose Auswirkungen haben konnten. Dabei ist das Buch alles andere als ein stringent erzähltes, stets eindeutig identifizierbares Gebilde: ständig wird der „Roman“ durch die Phantasmen des Erzählers durchkreuzt, und oft ist nicht klar zu sagen, worauf es hinausläuft: Tagebuchaufzeichnungen, Traumsequenzen, Sitzungen beim Pfarrer oder beim Psychiater, Grübeleien über die eigene Sexualität, Verhörprotokolle (bei denen es um eine vermeintliche Unterstützung der „Rote–Armee–Fraktion“ geht, wofür der Heranwachsende viel zu jung war), verquickt mit spätkindlichen Mythologisierungen, in denen sich damalige Fernsehhighlights mit Texten der wichtigsten Popgruppen (etwa der Beatles und vor allem ihrer LP „Rubber Soul“, einer „Teufelsaustreibung in 14 Schritten“) vermengen und Bibelzitate und religiöse Untergangsszenarien das Ganze in ein komplexes Bild von Analogien und Spekulationen zwingen. Darüber hinaus werden all diese Phänomene im Jargon der Zeit präsentiert, ein Jugendsprech, der mit grammatikalisch unfertigen Sätzen eher flapsig daherkommt und doch die ganze Verwirrung dokumentiert. Das Buch ist aber noch weit mehr, und das macht die Sache auch kryptisch: hochphilosophische (dabei sehr lesenswerte) Einlassungen, etwa über das Fortbestehen nazistischen Denkens im Duktus der deutschen Alltagssprache oder über den (vermeintlichen) Gegensatz von Terrorismus und Christentum, konterkarieren den unernsten, im Grunde nur bedingt witzigen Ansatz. Genialität und Irrsinn gehen bei Witzel und seinen „exegetischen Studien“ eine höchst prekäre Balance ein: als Leser schüttelt man sich oder zumindest den Kopf und ist dann gleich wieder absolut begeistert über die pubertär angestimmte Synthetisierung der Gegensätze, die man so noch nicht gelesen hat.
Manchmal wird ein gewisser Hintersinn freilich nur demjenigen verständlich, der die Embleme dieser Zeit auch von Grund auf internalisiert hat: Dr. Märklin, Pfarrer Fleischmann, Frau Faller – hinter den Namen verstecken sich die maßgeblichen Hersteller von Modelleisenbahnen und Spielzeugautos von damals (fehlte eigentlich nur noch ein Herr Carrera). Wer noch mit TV–Serien wie „Tammy, das Mädchen vom Hausboot“ was anfangen kann oder mit dem irgendwie immerpräsenten akrobatischen Tausendsassa Armin Dahl, dem sei dieses barocke, rundherum unvergleichliche Buch wärmstens ans Herz gelegt – es ist ein Tripp, der einen einfach umhaut, ein potenziertes Lektüredelirium mit garantierten Nebenwirkungen (Schwindel, notorisches Kopfschütteln, Lachanfälle – und Nachdurst, ganz viel).

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch–depressiven Teenager im Sommer 1969. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015, 818 S., 29.90 €

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