Wie auf dünnem Eis, noch darüber schwebend. „Rot-blau #2“ (2020) zeigt eine Containerartige Konstruktion inmitten einer kargen weiten Landschaft. Der wolkig-weiße Boden und der hellblaue Himmel lassen die rote Fassade und die blaue vorgesetzte Dachpartie hell strahlen, die Schatten betonen das Kontinuum der normierten Planken, die ganz geschlossen sind. Die Sicht aus der Distanz, leicht erhöht aus verschobener Perspektive, betont die Struktur der Gebäudeform weiter, die lineare Einfassung der kantigen Erscheinung, die technoide Materialität. Aber handelt es sich um ein Häuschen aus dem Modellbau oder ist dies die Wirklichkeit? Eine Forschungsstation im ewigen Eis oder ein Wartehäuschen in Alaska? Was denkbar sachlich auftritt, erweist sich in seiner Verdichtung als ausgesprochen komplex und verschließt sich zugleich jeder Interpretation. Die größte Verrätselung ist Folge der größten Klarheit. In dieser für ihn charakteristischen Fotoarbeit arbeitet Schulz die Essenz der Situation heraus und verknappt sie auf ihre Geometrie. Deshalb, beim Begriff dokumentarisch – der für die heutige Fotografie ohnehin nicht mehr pauschal gilt – wiegt Josef Schulz nachdenklich den Kopf. Er wolle ja gerade von dem Moment weg, ab dem die Dinge ihre Geschichte zu erzählen beginnen.
In seinen fotografischen Arbeiten untersucht Josef Schulz die Verfasstheit vertrauter architektonischer und landschaftlicher Strukturen und wirft dadurch aktuelle Fragen unserer Zivilisation auf. Er fotografiert in Farbe mit der Plattenkamera, sehr lange analog, seit einigen Jahren auch digital. Seit Ende der 1990er Jahre bearbeitet er seine Aufnahmen am Computer, ab der Werkgruppe „Centre Commercial“, die damals bei „Syrius“, kuratiert von Rosina Fuchs, ausgestellt war. Josef Schulz hat in dieser Serie seine Aufnahmen riesiger Hüllen-artiger Fassaden von Großmärkten und Einkaufszentren, welche er an den Stadträndern in Frankreich gesehen hat, nebeneinander montiert. Auf den panoramatischen Querformaten finden sich vereinzelt, verschwindend klein und leicht zu übersehen, Menschen. Später kommen seine Bilder ganz ohne diese aus, auch wenn sie nach wie vor vom Menschen handeln, von seinen Zweckbauten und dem Zugriff auf die Umwelt, von ökonomischer Effizienz und globaler Normierung, von architektonischer Robustheit und dem unausweichlich Brüchigen im Vergehen der Zeit. In den Monaten mit Corona erhalten solche Aufnahmen eine plötzliche Aktualität. Josef Schulz geht es indessen um grundsätzliche Phänomene, auch dann wenn er einzigartige architektonische Umsetzungen festhält.
Entstanden sind die Aufnahmen von Großmärkten noch während seines Studiums in der Fotoklasse der Düsseldorfer Kunstakademie, erst bei Bernd Becher und dann bei Thomas Ruff, bei dem er 2002 als Meisterschüler abgeschlossen hat. Die Grundzüge seiner Handschrift liegen da bereits vor, die Hinwendung zu Orten und architektonischen Szenerien, die fremdartig und verlassen wirken. Die distanzierte, von Bild zu Bild perspektivisch wechselnde Sicht auf diese, so dass sie, mit der Unklarheit der Dimensionen, isoliert für sich gegeben sind. Ein Interesse für plakativ signethafte Symbole und Darstellungen, deren Intention ist, den Konsum anzuheizen. Mit seinen Maßnahmen erzeugt Schulz häufig ein künstliches Klima, welches das Geschehen weiter entrückt und zugleich entlarvt.
Josef Schulz arbeitet parallel an mehreren Werkgruppen, denen spezifische Strategien oder Orte mit besonderen Phänomenen zugrunde liegen und die er wie unterm Brennglas fokussiert. So hat er sich im Osten der USA den Tankstellen, Restaurants etc. an Verkehrsstraßen zugewandt, die infolge der Finanzkrise 2008 pleite gingen, und sie unter einem Blaufilter in eine bedrohlich wirkende Dämmerung versetzt, oder porträtiert die steil aufragenden weißen Hochhäuser in Haifa in Hochformaten. Nach und nach tritt hinter dem Interesse für Architektur und Städtebau die Thematisierung der wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse hervor. Einige der Werkgruppen beziehen die umgebende Natur ein, diese scheint sich ihren Raum zurückzuerobern, etwa indem ein Baum eine Industriehalle zu überwachsen scheint. Die Vegetation breitet sich an den zurückgelassenen Orten aus, selbst wenn sie im Hintergrund, wie hinter einer Nebelwand verharrt wie in der Werkgruppe „Übergang“, die sich den aufgegebenen, teils verfallenen weil überflüssigen Grenzstationen überall in Europa widmet. Die Werkgruppe „Terraform“ zeigt Ansichten von Gebirgen, die nun aber, wie die Gebäudefassaden, mit digitalen Mitteln vereinheitlicht und geschlossen, also von Büschen und Erde geklärt sind und als Geröllfelder so aussehen, wie es sie eigentlich nie zu sehen gibt. Das latent Artifizielle, das sich als Unbehagen breit macht, ist noch dadurch gesteigert, dass die Gesteinsmassive im Mittelgrund des Bildes aufsteigen und, zumal als Großformat, nah wirken. „Unser Auge findet keinen Halt und keinen Standpunkt – der Blick und die Gedanken stürzen ins Bodenlose“, hat Christiane Heuwinkel anlässlich der Werkschau im Bielefelder Hermann Stenner Forum geschrieben (Kat. 2020, 64).
Einen „Reinigungsprozess“ zum aseptisch Glatten hat Josef Schulz dann in der – vermeintlich entgegengesetzten – Werkgruppe „Sign Out“ vorgenommen. Sie zeigt vor einem blauen, künstlichen verlaufenden Himmel die starkfarbigen Oberflächen von Schildern, aber ohne ihre Schrift und ihre Embleme: Gefunden hat Schulz diese Signets in den USA an den Geschäften, die in der Wirtschaftskrise Insolvenz anmelden mussten. Sie erinnern nun sehr direkt an die Hard Edge Kunst, und es überrascht nicht, dass Schulz mit dieser Werkgruppe in einer Berliner Galerie im Dialog mit der Farbfeldmalerei von Georg Karl Pfahler ausgestellt wurde. Und so wie das Interesse von Schulz für die Malerei evident ist, so weisen die Intensität der Verdinglichung und das Verschärfen räumlicher Gegebenheiten in den verschiedenen Werkkomplexen auf Schulz‘ Hinwendung zur Skulptur – mit dem Medium der Fotografie.
Während das Hermann Stenner Forum bis mindestens Mitte Januar einen Überblick zur Arbeit von Josef Schulz zeigt, sind im Kunstarchiv Kaiserswerth noch länger zwei Bilder aus der neuesten, in verschiedenen Metropolen in China seit 2016 entstandenen Werkgruppe ausgestellt. Grundlage der „city scapes“ sind Fotografien der Ballungsräume, aus denen Wohn- und Bürotürme mit ihren gleichförmigen Rastern unaufhaltsam herauswachsen und alles unter sich winzig wirken lassen. Schulz hat diese Wolkenkratzer im Stadtensemble auf Augenhöhe, teils sogar von einem landschaftlich höheren Standpunkt aufgenommen. Von Mal zu Mal sieht man grüne Flächen von Parkanlagen oder einen Flusslauf im Vordergrund, aber alles ist in pulsierender Bewegung: In den unteren Bildhälften liegen mehrere Aufnahmen als Schichten versetzt wie Glaswände übereinander, wobei die tieferen Ebenen verblasst, verwaschen und wie Nebel über und im Wasser liegen. Da ist die Anspielung auf die fernöstliche Tradition der Tuschmalerei, der er den Fortschritt und das Uniforme globaler Architektur gegenüber stellt. Die Bevölkerungsdichte, das Beschleunigte aber auch Reglementierte des Lebens im Zusammenspiel von Gegenwart und Zukunft mit den Resten von Vergangenheit treten – auch hier – nach und nach hinter der Fassade der schönen geheimnisvollen Bilder von Josef Schulz hervor.
Josef Schulz – Spectrum,
regulär bis 17. Januar im Kunstforum Hermann Stenner in Bielefeld,
ggfs. Verlängerung s. kunstforum-hermann-stenner.de
Josef Schulz ist beteiligt bei: Flusslandschaften,
bis 28. März im Kunstarchiv Kaiserswerth, www.kunstarchiv-kaiserswerth.de
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