Die Zeitschrift BÖHM enthält ausschließlich Fotografien, in der aktuellen, 47. Nummer sind es, ganzflächig in Farbe, städtische Situationen bei Tag, nur auf den Innencovern finden sich Lexikontexte, die teils Wikipedia entnommen sind und den Kontext dieser Aufnahmen umreißen: Es geht um die japanische Metropole Osaka und ihren Stadtteil Shinsekai. Die Aufnahmen stammen von Katja Stuke und Oliver Sieber, die das Zine vor 20 Jahren gegründet haben und seither gestalten und herausgeben. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit. In der Summe der Fotografien wird die urbane Szenerie lediglich gestreift, nur wenige Ereignisse geraten ins Bild, aber nichts Besonderes. Die Aufnahmen, die sich auf den Doppelseiten gegenüber stehen, und das sukzessive Umblättern initiieren einen Rhythmus, der an Flanieren und Stehenbleiben erinnert. Motive kehren wieder, plötzlich fallen die Fahrräder auf und die Hochspannungsmasten oder der Baustil der Hochhäuser, die kahlen Mauern und Absperrungen, die man zunächst übersehen hat, die Frau mit der Zigarette lenkt die Betrachtung auf die Passanten, dadurch kommen Personen in den Blick, die geradezu vorbeihuschen … Diese Ausgabe der BÖHM trägt den Titel „New World“. Er verweist u.a. auf die Expo, die 1970 in Osaka stattfand und dort 2025 auf einer künstlichen Insel wieder stattfinden soll. Er spielt vielleicht auf die Erwartungen an, die eine solche Veranstaltung für die Stadtentwicklung und den Wohlstand der Bevölkerung weckt, und auf das Schicksal von Stadtteilen wie Shinsekai, das nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sich selbst überlassen wurde und bis vor kurzem als eine der gefährlichsten Gegenden in Japan galt, in der sich Obdachlosigkeit und Prostitution ausbreiteten.
Das Medium, mit dem Katja Stuke und Oliver Sieber ihre Recherchen vornehmen und in künstlerische Projekte umsetzen, ist die Fotografie. Ihre Verfahren und Produktionsformen, wozu auch Video und Diaprojektion gehören, verbinden die Bilderflut der Gegenwart mit der Genauigkeit gegenüber dem einzelnen Bild, das sie in einen größeren Zusammenhang einbinden. Und dann gibt es Folgen von Aufnahmen, die sich nur minimal voneinander unterscheiden, aber dadurch auf die Beweglichkeit der Bilder als Stills verweisen und ein produktives Sehen initiieren.
Katja Stuke (*1968, Telgte) und Oliver Sieber (*1966, Düsseldorf) haben an der Fachhochschule Düsseldorf Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt auf der Fotografie studiert, auch haben beide die Typografie-Klasse von Walter Nikkels an der Kunstakademie besucht – das Interesse für Layout und Typografie spiegelt sich in den Veröffentlichungen unmittelbar wider. 1999 haben die beiden erstmals zusammen eine fotografische Publikation produziert, die erste Ausgabe der BÖHM. 2003 realisierten sie ihr erstes gemeinsames künstlerisches Projekt in Kalifornien, wo sie die Drehorte von Hollywood-Filmen aufsuchten. Zwei Jahre später reisten sie nach Osaka, im Rahmen eines Austausch-Stipendiums zwischen Düsseldorf und der japanischen Stadt, und halten sich seither jedes Jahr dort auf, oft für mehrere Monate. Die BÖHM heißt seit einigen Jahren „BöhmKobayashi“, unter diesem Label ist sie auf der Homepage registriert und unter diesem Namen veröffentlichen beide Künstler auch weitere Publikationen und Künstlerbücher.
Zunächst setzten Katja Stuke und Oliver Sieber in Osaka und in Tokio ihre laufenden Projekte fort, Oliver Sieber etwa seine Serie der „J_Subs“, die Porträtfotos von u.a. Skins und Teds als internationales Phänomen zeigt. Japan ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für soziokulturelle und gesellschaftliche Fragestellungen, die hier noch wie unter dem Brennglas auftreten. So werden die Frisuren in Japan mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen; sie führen zu Einstufungen und mitunter stillschweigender Ächtung in sozialen Schichten, entsprechend sind sie bewusste Entscheidungen, ja, Bekenntnisse. Oder, ergänzen Katja Stuke und Oliver Sieber, die Postleitzahlen: Als verräterische Mitteilung über das Wohnviertel, das einen besseren oder schlechteren Ruf besitzt, können sie über den Job und die gesellschaftliche Akzeptanz entscheiden. Bei ihren „Walks“ haben Stuke und Sieber den Verlauf der Grenzen von Postleitzahlen mit dem Stadtplan in der Hand abgeschritten und dazu Fotografien aufgenommen, die den Charakter der Gegenden herausarbeiten. Und dann stoßen sie bei ihren Recherchen oder dem Durchqueren der Straßen auf Demonstrationen und Nazi-Aufmärsche und Szenen, die das Vorliegen von Geschlechterzuweisungen belegen, und die es eben auch in der westlichen Gesellschaft gibt: Sie lösen wieder neue Werkgruppen aus. Ihre in Japan aufgenommenen Arbeiten – neben denen konstant Werke in anderen Ländern und zu anderen Themen entstehen – haben Stuke und Sieber unter dem Begriff „Japanese Lesson“ zusammengefasst: zu übersetzen vielleicht mit Japan-Unterricht, Lernen von Japan, und damit als Verfahren des Zuhörens und Hinschauens gemeint.
In der gemeinsamen Arbeit im Studio in der Ronsdorfer Straße, gleich neben dem Weltkunstzimmer, wird das gegenseitige Einbringen zur zentralen künstlerischen Strategie. „Sequence as a Dialogue“, die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle Gießen, zeigt aber auch separate Werkgruppen. Gemeinsam ist Kaja Stuke und Oliver Sieber eine Fotografie, die auf die globale Beschleunigung und die digitale Verfügbarkeit von Bildern sensibel reagiert und die Individualität und den Wandel der Städte und der Gesellschaften und deren (rituelle, überlieferte) Vorgaben wiederum an das Individuum untersucht. Fotografie ist für sie diskursives Medium, bei dem jede Verfestigung anders ausfällt und mit den momentanen Umständen (Ausstellungskontext und -raum, Form der Publikation) korrespondiert. Das beginnt mit der Entscheidung für Farbe und Schwarz-Weiß und ob ein Foto kleinformatig und gerahmt und unter Passepartout oder als gerastertes Plakat vergrößert ist. In der Kunsthalle Gießen ist auf einem Monitor zu sehen, wie ein Fax-Gerät – also als Bild im Bild – einzelne Fotos auswirft. Katja Stuke spricht von den Aggregatzuständen, deren sich das fotografische Bild bedient; angesprochen ist die Aura dieses Mediums mit der Frage, inwieweit es ein Unikat ist.
Ein weiteres, kontinuierlich fortgesetztes Medium der Publikation sind die Zeitschriften und Bücher, die in Gießen komplett als skulpturales Ensemble ausgestellt sind. Dazu gehören auch die Ausgaben von ANT!FOTO, die an eine Zeitung erinnern. Es ist vielleicht das ambitionierteste und flexibelste Projekt, das Stuke und Sieber gestartet haben und das noch zu kuratorischen Tätigkeiten (so über Jahre hinweg im Kunstraum an der Himmelgeisterstraße und im Künstlerverein Malkasten) geführt hat. ANT!FOTO ist Diskussionsforum mit fotografischen Beiträgen von Kollegen auch anderer Richtungen und mit Statements zur Fotografie. Stuke und Sieber tragen dazu mit einem Manifest bei. Dessen erster Satz lautet: „WE LOVE PHOTOGRAPHY IN ALL ITS GLORY“. Katja Stuke und Oliver Sieber arbeiten mit einer Gegenwart der Fotografie, die bedenkt, dass sich das Medium und dessen Funktion in der Gesellschaft selbst verändert. Neuere Konzepte führen sie nach Paris und, nicht minder spannend, ins Ruhrgebiet mit seinen landschaftlichen Sensationen und dem komplexen sozialen Wandel.
Katja Stuke + Oliver Sieber
Sequence as a Dialogue, bis 18. August in der Kunsthalle Gießen,
www.kunsthalle-giessen.de
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