J.M.G. Le Clézio, mittlerweile 82 Jahre alt, kann auf ein riesiges Werk verweisen. Aktuell hat er sich in zwei Erzählungen seiner frühen Kindheit zugewandt, was zunächst wenig originell klingt. Er hat dabei aber etwas zuwege gebracht, das man durchaus hervorheben kann – eine bei allem autobiografischen Bezug intensive, unverstellte und doch kunstvoll gespiegelte Innenansicht zweier Regionen, die ihn geprägt haben:– der Provence, in der er seine frühste Kindheit und den Zweiten Weltkrieg erlebte, und der Bretagne, wo er Ende der 40–er, Anfang der 50–er Jahre die Ferien mit seinen Eltern verbrachte. Man muss ihm in beiden Fällen eine stupende Gedächtnisleistung attestieren, zumal hier auf Verklärung oder jedwedes nostalgisches Gedöns weitgehend verzichtet wird. Stets geht es ihm, wie in seinem Werk überhaupt, im weiteren Sinne darum, die Suche nach den familiären Wurzeln fortzuschreiben, weitere verborgene Facetten aufzuspüren. Gerade der Bretagne–Bericht skizziert einen Gegensatz, der klarer benannt werden kann (was ihn dann von den Provence–Erinnerungen ein Stück weit unterscheidet): Wenn er etwa das Dorf Sainte–Marine besucht, das zu seiner Zeit als Kind weder Souvenirläden noch größere Infrastruktur aufwies, und er den ehemals verschlafenen Charme beschreibt, so geschieht es, um Veränderungen und Verluste dingfest zu machen und zu zeigen, wie alles etwas „Endgültiges, Urbanes“ angenommen hat. Der Strukturwandel, die Brüche sind es, die sich in seinem Bericht bemerkbar machen, wobei nicht alles ins Negative gekehrt ist: Wurde in den 50–er Jahren die bretonische Sprache noch belächelt, wenn sie nicht gleich als zurückgeblieben beschrieben und ihre Menschen als Hinterwäldler diskreditiert wurde, besinnt man sich schon seit längerem auf ihre Pflege, auf bretonische Kultur überhaupt, was sich nicht nur für Touristen zur Urlaubszeit zu erkennen gibt. Le Clezio gibt diese Wandlungen an vielen Beispielen wieder, und dies stets in einem empathischen Ton. Das liest sich zugleich wie ein Antidot zu Jean–Luc Bannalecs konventionell aufgetragenen Bretagne–Klischees um Kommissar Dupin, der es der pittoresken Bilder wegen schon längst ins (deutsche wie französische) TV geschafft hat.
Dagegen steht die Zeit an der Côte d’Azur, sie liegt zeitlich vor der bretonischen, und sie ist vor allem eine Kriegszeit, geprägt von Hunger und Entbehrung. Der Junge erlebt, wie in den Vorgarten der Großmutter in Nizza eine Bombe fällt. Die Familie flieht ohne den Vater, der als Arzt in Afrika arbeitet, in ein kleines Dorf ins Hinterland. Dort mangelt es an allem, und Le Clézio beschreibt vor allem den täglichen Hunger. Auch Krankheiten setzen ihm zu, die lauernden Gefahren können tödlich sein.
Le Clézio bedient sich harter Kontraste, überhaupt wollen die beiden Begriffe Provence und Krieg nicht zusammenzupassen. Man muss sich also lösen von wohlfeilen literarischen Vorbildern wie etwa den romantisierenden Einlassungen eines Albert Camus, der diesen Landstrich immer wieder als ein Eldorado des Lichts, des Menschseins, des Friedens gefeiert hat. Hier erfährt man das genaue Gegenteil.
Beide Erzählungen markieren unterschiedliche Verfahren, um Erinnerung als Teil einer zugleich existenziellen wie geografischen Verortung zu begreifen. Le Clézios Bretagnezeit war eine friedliche Zeit, sie dauerte stets drei volle Sommermonate (so etwas gab es tatsächlich in Frankreich) und war vor allem in einen behüteten bürgerlichen Kosmos eingebettet; dagegen steht eine Provencezeit, die vor allem Entbehrung und Verlorenheit heraufbeschwört. Die Kontraste könnten stärker nicht sein; in beiden Fällen aber liefert eine sinnlich geprägte Sprache stimmungsvolle Momente – jenseits der Klischees.
J.M.G. Le Clézio: Bretonisches Lied. Zwei Erzählungen. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2022, 186 S., 22.-€
aus biograph 09/2022
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