Den Buchtitel suggeriert eine auf eine Jahreszeit bezogene Chronologie, ein im Laufe einzelner Tage geführtes Tagebuch mit den womöglich saisonalen Sichtweisen und Befindlichkeiten seines Verfassers. Doch das ist bei Paul Austers „Winterjournal“ eindeutig nicht der Fall. Der Titel steht als Altersmetapher des heute immerhin auch schon 66-jährigen Autors. Es geht in dem Buch zwar um persönliche Aspekte des eigenen Gewordenseins, der Text selbst scheint indes keiner stringenten Gedankenführung zu folgen, sondern eher darauf angelegt zu sein, biographisch-assoziativ und ohne großen Gestaltungswillen seine Themen anzugehen. Man bekommt in Austers betont vergangenheitsbezogenen Diskurs einen Eindruck seiner ihn bestimmenden Belange vor allem vor seiner Zeit als Schriftsteller. Es zeigt sich da früh, hervorgerufen durch die Erinnerungen an die zahllosen körperlichen Verletzungen während der Kindheit, ein Grundmotiv seines gesamten Lebens: dem Gefühl, sich niemals und nirgendwo sicher zu sein. Gleich zu Beginn wird er da sehr konkret: Wie er als Kleinkind diverse Unfälle zu verschmerzen hat, Wunden, die mit einem hohen Blutzoll einhergehen und oberflächlich genäht werden müssen – da steht das Verletztsein am Anfang gleichsam schon als Bild für alles Folgende.
Trotz des auf den ersten Blick etwas schwer wirkenden Inputs entbehrt das Buch nicht der Komik. Authentisch und komisch zugleich wirken die Beschreibungen erster sexueller „Abenteuer“ – jenes verstohlene, verunsicherte Umhertasten an der kurzzeitig Angebetenen bei schlimmen und unkontrollierbaren Erektionen unterhalb der Gürtellinie (und das alles immer eingedenk der durch jüdisch-spießige Erziehungsmethoden vorgeschriebenen Gesetze von Moral und Anstand), jene „nutzlose Exkursionen in die Röcke und Blusen deiner Gefährtinnen“, denn natürlich gilt zu Anfang der 60er Jahre: nackte Haut ist ein Tabu, ein komplettes No-Go, das hormonelle Erleben eine „Hölle aus Frustration und permanenter sexueller Erregung“. Kein Wunder also, dass für den ersten realen Sex der Weg den Jugendlichen in die Abgeschiedenheit eines Bordells führt. Diese Art der „éducation sexuelle“ haben freilich andere Autoren in der Literaturgeschichte ganz genauso „durchmachen“ müssen und sich danach eher süffisant darüber ausgelassen.
Auster berichtet auch von seinen zahlreichen Wohnungswechseln zwischen Manhattan und Paris, zeigt die ganze Misere seine mittellosen Umhergetriebenseins, beschreibt die ca. 20 verschiedenen Behausungen, in denen er über kurz oder lang gelebt hat. Interessant dabei erscheint die Vernetzung der Alltagserfahrungen mit den produktionsästhetischen Bedingungen, man bekommt eine Ahnung davon, wie schwer es ihm zeitweise gefallen ist, seine Bücher zu schreiben. Und dann die Schicksalsschläge. Auf den Tod der Mutter reagiert er zu seiner eigenen Überraschung mit reichlich Verzögerung – und schließlich mit einer Panikattacke. Es werden weitere folgen, womit unverkennbar die Verklausulierung seiner Todesangst gemeint ist – wie überhaupt das Thema Tod, neben allerlei verlorenen Liebschaften (abgetan als „Amouren und Techtelmechtel“), leitmotivisch das Buch grundiert, Auster bemüht dafür auch schon mal große Kollegen wie Keats und Joyce. Es ist rundherum ein schönes Buch, leicht und fluffig wie ein Sorbet, und dabei doch mit viel philosophischem Tiefgang versehen und mit subtilem Charme.
Paul Auster: Winterjournal. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, 256 S., 19,95 €
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