Der Franzose Tanguy Viel ist an dieser Stelle vor Jahren schon mal vorgestellt worden. Der Mann gehört zur Sorte jener Spieler, wie sie in der französischen Literatur seit längerer Zeit vermehrt auszumachen sind, verschiedene Genres (Krimi, Drama, Außenseitergeschichte etc.) werden da aufgemischt und zugleich neu miteinander verknüpft, augenzwinkernd werden allerlei Klischees bedient, und unter Umständen meldet sich noch der Erzähler zu Wort, der zu der ganzen Chose seinen eigenen Senf beigibt. Das sollte vorab gesagt sein, denn wenn man solcher Art Puzzle-Spiele in der Tradition der literarischen Postmoderne nichts abgewinnen kann, sollte man eher die Finger davon lassen. Aber fraglos entgeht einem dann etwas, denn das alles beschreibt hohe, ausgefeilteste Spielkunst.
Im vorliegenden Fall schildert der Ich-Erzähler, seines Zeichens Schriftsteller, seinen Wunsch, einen „amerikanischen Roman“ zu schreiben, weil ihm das Französische zu provinziell erscheint und auch „zu versteinert“, und wir erleben nun direkt, wie diese Idee bei ihm Gestalt annimmt und sich konkretisiert: er wählt sich einen Ort (Detroit, Michigan), eine Figur namens Dwayne Koster (und er fragt sich gleich: wie kam ich nur auf diesen Namen?), einem Mann um die 50, der in einem alten Dodge über die Highways brettert, selbstredend geschieden ist, der also sein Päckchen zu tragen hat und nebenbei einigen wirren Ideen nachhängt. So sinniert er z.B. über das Verschwinden eines Sängers namens Jim Sullivan in den 1970er Jahren in der mexikanischen Wüste. Dwaynes Lebensgeschichte stellt sich bald als eine jener ganz typischen Minitragödien heraus, wie man sie aus zig amerikanischen Romanen oder Filmen kennt, so dass man den Plot hier auch ein Stück weit vernachlässigen kann. Denn um die Geschichte geht es eher weniger. Interessant ist vielmehr die technische Herangehensweise, die sich in den Ausstaffierungen manifestiert, dem gewählten Dekor, vor allem in dem präzisen Einsatz einzelner Details. Dwaynes Freundin etwa, eine Studentin, arbeitet in einem Diner (sie heißt Milly und der Erzähler verrät, sie hätte auch Daisy heißen können, weil: Bedienungen in einem Diner heißen nunmal Daisy oder Millie), Milly also wird beschrieben „(...) mit ihrem ewigen Kaugummi im Mund, den Namensschild auf der Brust und den Haaren, die im Neonlicht noch wasserstoffblonder aussahen (…).“ Und im Nu hat man sie plastisch vor sich, diese Milly, kaugummikauend, den Tisch abwischend: das leibhaftige, lebendig gewordene Klischee.
Plot und Parodie verschmelzen da ein ums andere Mal. Wie Tanguy Viel seinen sogenannten amerikanischen Roman mit den Prinzipien postmoderner Romantheorie durchdekliniert, verrät viel Knowhow. Er ist in der Metaposition des erklärenden Autors, der selbst auch Protagonist und allwissender Erzähler ist, der drauflos plappert, was das Zeug hält und unterderhand das Zustandekommen seines Romans mitreflektiert. Trotz aller Einsicht in die literarischen Produktionsbedingungen, die man, ob man will oder nicht, somit ungefragt serviert bekommt, entwickelt sich eine realistische, letztendlich natürlich nur aus tausend Versatzstücken bestehende Geschichte, eine, die man zu kennen glaubt, die aber, derart zusammengesetzt, plötzlich etwas Neues, etwas ganz Eigenes generiert. Wie gesagt: literarisches Varieté zwar, aber auf hohem Niveau.
Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 120 S., 16.90 €
aus biograph 10/2014
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