Nun hat der mittlerweile 73–jährige Schauspieler Edgar Selge seine Memoiren vorgelegt, oder besser gesagt: Ausschnitte daraus, denn Gegenstand ist vornehmlich seine Kindheit in den 50er–Jahren. Man meinte diesbezüglich alles zu wissen, gerade über die mitverhandelte Elterngeneration, die den Zweiten Weltkrieg in welcher Form auch immer miterlebte bzw. überlebte und die ihre Erfahrungen in entsprechende Erziehungsstile einmünden ließ. Das Elternhaus der Selges war ein großbürgerliches, ein dem Anschein nach feines, mit allem Zipp und Zapp, da offenbarte sich eine distinguierte Musikerfamilie. Der Vater war hauptberuflich Anwalt, fungierte in dem hier beschriebenen Abschnitt als Gefängnisdirektor einer Jugendstrafanstalt in Herford und erwies sich im direkten wie im übertragenen Sinne des Wortes als Familienoberhaupt alten Schlags.
Zunächst also der Eindruck, dieser Vater sei ein kultivierter, empathischer Mann, der nicht nur belesen ist und sehr gut Klavier spielt, sondern der mit seinem Können ganze Musiknachmittage bestreiten kann, zu denen er auffallend gönnerhaft etwa achtzig seiner jugendlichen Gefangenen ins Haus lädt, die dort im Wohnzimmer der Selges bei Apfelsaft und Schnittchen die Schreinerarbeiten bzw. die Möbel bestaunen können, die sie selbst im Knast gebaut haben. Auch Edgars Mutter nimmt ab und zu teil an den Musikveranstaltungen, spielt einigermaßen Geige, der ältere Bruder Edgars, Werner, spielt Cello, ist aber nicht dabei. Er ist nämlich der Einzige in der Familie, der sich durchweg kritisch, ja ablehnend gegenüber seinem Vater positioniert, er kreidet ihm viele dunkle Dinge aus seiner Vergangenheit an.
Edgar selbst, der diese Hauskonzerte genießt, geht noch zur Grundschule und ist, was das Klavierspiel angeht, nur leidlich begabt. Die Probleme mit seinen Eltern entwickeln sich ohnehin in eine andere Richtung, ständig kommt es zum Konflikt mit dem Vater. Er glaubt an das Prinzip der Schläge als Mittel pädagogischer Erziehung, und Edgar bekommt das in seinen überschaubaren Emanzipationsversuchen (heimlicher Gang zur Kirmes oder ins Kino) besonders zu spüren, er bezieht immer wieder Prügel mit dem Rohrstock, und es wird evident: dies alles – feinste Kultur einerseits, pechschwarze Pädagogik andererseits – passt überhaupt nicht zusammen. Interessanterweise verteufelt Edgar seinen Vater nicht, er will ihn nur verstehen und „nicht zugeben, von jemanden geschlagen zu werden, den ich liebe.“ Vater Selge ist, man ahnt es, ein Verfechter der NS–Zeit, hat nach dem Krieg in seiner Funktion als Anwalt etliche Nazi–Größen verteidigt oder ihnen justiziable Erleichterungen verschafft, nichts treibt ihn später mehr um als ein möglicher Sieg der „Sozen“ bei der Bundestagswahl: „Wenn Brandt an die Macht kommt, will sich unser Vater umbringen“, hält Edgar fest. Bei Dr. Selge paaren sich rechtes, faschistoides Denken mit paranoider, schizophrener Angst und neurotischer Kunstbeflissenheit. Diese Melange muss man erst mal aushalten.
In diesem Elternhaus (das im Übrigen zwei Todesfälle zu verzeichnen hat, zwei Brüder Edgars sterben tragisch) ist die Mutter die Einzige, die sich – spät, aber immerhin – noch ein wenig entwickelt. Wenn sie antijüdische Ressentiments im Haus auch lange Zeit mitträgt, kommt es bei ihr zu einer Art Katharsis, als sie sich die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht ansieht und erkennt, dass „nur Verbrecher um mich herum“ sind – und sie ihren Mann nun eindeutig hinzuzählt; als psychosomatische Folge dieser Erkenntnis erleidet sie einen Magendurchbruch.
Selge beschreibt dieses schillernde Familienidyll ebenso schonungslos wie empathisch, bricht dabei nie den Stab über seine Eltern. Es bleiben Fragen offen und damit die für ihn schmerzliche Erkenntnis, dass diese nie mehr gelöst werden können.
Edgar Selge: Hast Du uns endlich gefunden. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 302 S., 24.-€
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