Alkoholiker, Junkies, hochgradig Beziehungsgestörte und Paranoiker, eine solche Ansammlung zweifelhafter Charaktere bekommt man in dieser Konzentration selten geboten, wobei die Frage, ob sie schon immer so gewesen oder so geworden sind, erst einmal zweitrangig ist. Man staunt über ein ganzes Panoptikum an Verwerfungen, Ottessa Moshfeghs Protagonisten bringen zunächst so gut wie gar nichts mit, was sie sympathisch erscheinen lässt, vielmehr tragen sie offenbar einen erheblichen Schaden mit sich herum, ein starkes Defizit an Empathie, an standardisiertem Sozialverhalten. Was aber steckt dahinter, wenn einige Figuren trotz zweifelhaften Auftritts sehr oft weinen, andere sich gerne übergeben? In ihren vierzehn Geschichten schlägt die Amerikanerin kroatisch–persischer Abstammung einen breiten Fächer hochneurotischer Verhaltensweisen auf, kaum ein Tabu bleibt dabei ungebrochen.
In „Durchgeknallt“ etwa erleben wir eine Frau, die über ihre Beziehung zu ihrem Freund, einem Hausverwalter, berichtet, und wir erfahren, dass sie ihn nicht ausstehen kann, dass sie ihn abgrundtief hässlich findet, dass er ein pathologischer Fall ist. Bloß, was in aller Welt bindet sie an ihn, er, der an Aliens glaubt, sich gerne reden hört, einen Kristalltotenkopf streichelt und sich permanent verfolgt fühlt? Sollte er doch der Mann ihrer Träume sein, wie sie vermutet, haben sich da vielleicht zwei Durchgeknallte gefunden? Und wer von beiden ist eigentlich der krankere Fall?
Moshfeghs Figurenarsenal weist gestörte Menschen auf, die sich bei allen Desastern, die sich in ihrem Leben auftürmen, auch Überlebensstrategien zurecht gelegt haben, wie etwa Miss Mooney in der ersten Geschichte („Ich bessere mich“), eine Lehrerin, die ihre Alkoholprobleme mit einer besonderen Taktik begegnet: „(In den Bars) versuchte ich immer, mir Sachen zu bestellen, die mir nicht schmeckten, damit ich langsamer trank.“ Sie ist bei weitem kein schlechter Mensch, versucht etwa, ihre Schüler durch die Prüfungen zu bringen, indem sie die Arbeiten zu deren Gunsten manipuliert. Nur wird ihr das am Ende alles nicht nützen.
Jeb (in „Eine ehrliche Frau“) ist ein einsamer Mann Anfang 60, er bekommt plötzlich eine ca. 30–jährige Frau zur Nachbarin, und sofort ist da seine (sexuelle) Neugierde geweckt. Er tut so, als wäre die junge Frau eher etwas für seinen beziehungsgestörten Neffen. Als der auftaucht, vermittelt Jeb einen ersten Kontakt zwischen den beiden. Aber es folgt nichts darauf, und als der Neffe wieder weg ist, lädt Jeb die neue Nachbarin auf einen Drink zu sich ein. Sofort demütigt er den abwesenden Neffen, indem er sagt, der würde Frauen gern “flachlegen und abhaken“, und die Nachbarin zeigt sich schockiert, doch Jeb macht in seiner übergriffigen Art einfach weiter. Als er am Ende dennoch mit leeren Händen dasteht, sublimiert er seine Niederlage in ein abstruses Urteil: „Sie war ein Flittchen, ein ordinäres Luder, niemand, mit dem man seine Zeit verschwenden sollte.“
In einer ähnlich verqueren Parallelwelt wie Jeb lebt auch Mister Wu. Gerne sucht er Prostituierte auf, wobei sein Herz doch für die Kassiererin in einer Videospielhalle schlägt. Unbedingt will er sie näher kennenlernen und wähnt sich dabei ganz clever: er probiert bei einer Prostituierten Dinge aus, die er später mit seinem Herzblatt in spe machen will, das Rendezvous, als es dann stattfinden soll, gerät aber zum Fiasko. In dieser Weise folgt man diesen ungekrönten Meistern der skrupulösen Selbstverhinderung ein ums andere Mal, Moshfeghs Figuren sind gewiss schrille Außenseiter, ebenso tragisch wie lächerlich und manchmal auch abstoßend – aber auch auf verstörende Weise faszinierend.
Ottessa Moshfegh: Heimweh nach einer anderen Welt. Storys. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind, München 2020, 335 S., 22.-€
aus biograph 04/20
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