Sophie Calles allererste Aktion als Konzeptkünstlerin machte sie sogleich berühmt, und die bestand darin, in Paris wildfremden Menschen hinterherzulaufen, sie mit der Kamera zu filmen und die Ergebnisse öffentlich zu machen – ein ebenso schlichtes wie gewinnträchtiges Projekt.
Diese diffus detektivisch wirkende Herangehensweise schien aber auch eine Art Initialzündung für alle weiteren Aktionen gewesen zu sein. Die Sache mit dem Adressbuch, um die es hier geht, passt ebenso gut ins Schema. Ausgangspunkt: ein Fund auf Pariser Straßen, ein Büchlein mit Adressen eines gewissen Pierre D., das sie sich kurzzeitig zu eigen macht, um die darin verzeichneten Namen zu kopieren und die entsprechenden Adressaten zu kontaktieren; Ziel sollte es sein, anhand deren Aussagen ein Bild des Besitzers zu erstellen. Das Buch selbst, dies zu ihrer Entlastung, schickte sie an den Besitzer zurück, wobei sie es allerdings vermied, ihm etwas von ihrer geplanten Aktion zu verraten. Die Gefahr eines Datenmissbrauchs, einer Grenzüberschreitung, die zwar künstlerisch inspiriert sein mochte, die Privatsphäre aber komplett ignorierte, war hier von vorneherein schon mit angelegt.
Im Sommer 1983 erschienen die Gespräche, die sie mit den einzelnen im Adressbuch verzeichneten Leuten führte, in der Tageszeitung „Libération“ – und riefen einen Skandal hervor. Die kurz gehaltenen Texte, 28 an der Zahl, liegen nun zum ersten Mal in kohärenter Form in Buchform und eben auch auf deutsch vor.
Der Anfrage, Auskünfte über den Besitzer dieses Adressbüchleins zu geben, wird in der Regel entsprochen, man trifft sich gemeinsam in Cafés oder direkt in der Wohnung des oder der Betreffenden; nur in wenigen Fällen wird das Ersuchen abgelehnt, etwa von einem gewissen Louis, der erbost ist über Calles Ansinnen und der von ihr den Namen des Adressbuchbesitzers erfahren will, um ihn zu warnen (Calle gibt den Namen nicht preis, verzeichnet aber zum ersten Mal Skrupel: „Plötzlich habe ich Angst vor dem, was ich tue“); die andere Absage kommt vom Bruder dieses Pierre D., einem Psychoanalytiker. In der Summe, vom künstlerischen Aspekt her, kristallisiert sich durch die Interviews eine Art Identitätsstiftung in Form eines Mosaiks heraus, wobei durch trügerisch wirkende Erinnerungen zahlreiche Unsicherheiten bestehen bleiben. Letztendlich aber muss das hier sich manifestierende Kunstverständnis kritisch hinterfragt werden, selbst wenn viele mit der narzisstischen Zurschaustellung des eigenen Kosmos heute keine Probleme mehr haben mögen. Auffallend, wie auskunftsfreudig alle damaligen Befragten sind, quasi niemand erkundigt sich nach dem Motiv Calles oder dem Ziel ihrer Recherche – sollte sich alles auf die schiere Offenlegung einer Privatheit reduzieren, mithin einer Sphäre, die stets verdeckt oder unsichtbar ist oder zumindest bleiben sollte? Die schlicht keinen etwas angeht? Oder gelten derartige Einwürfe heute als überholt? Die Sache bleibt, wie man es dreht und wendet, hoch ambivalent.
Begleitet wird das Buch von Schwarz–Weiß–Fotos der Autorin, denen nicht in jedem Fall ein direkter Bezug zum Erzählten nachzuweisen ist, die meisten Bilder wirken eher assoziativ, zumal wenn sie urbane Installationen, marode Innenräume abbilden, was aber auch stimmungsvolle Momente zeitigt und dem Text eine ästhetische Metaebene verleiht.
Die Geschichte selbst endet ungut: Durch die Publikation fühlt Pierre D. sich entblößt, er rächt sich, indem er ein Nacktfoto von Sophie Calle (sie arbeitete vor ihrer Zeit als Künstlerin als Stripperin in diversen Clubs) in derselben Tageszeitung veröffentlicht. In Calles Nachwort heißt es: „Es nahm ein böses Ende. Auch wenn er damit im Grunde meine Erzählung beglaubigte“. Auch begegnet ist sie ihm nie.
Sophie Calle: Das Adressbuch. Aus dem Französischen von Sabine Erbrich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 106 S., 22.-€
aus biograph 3/20
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