Wer für die nicht selten verschroben–desolat daherkommenden Helden Emmanuel Boves (1898–1945) einmal Interesse oder Empathie empfunden hat, der dürfte sich für eine Neuerscheinung interessieren, in der weitere Exemplare dieser in der Literatur wohl eigentümlichen Spezies zu Wort kommen. Neu und erstmalig auf deutsch liegt nämlich ein Band mit Erzählungen aus den 1920er Jahren vor, Boves produktivster Phase, in der auch der Roman erschien, mit dem er Anfang der 1980er Jahre hierzulande berühmt wurde: „Meine Freunde“. Der vorliegende Band „Die Geschichte eines Wahnsinnigen“ umfasst sieben Erzählungen, in denen die kleinen persönlichen Abgründe seltsam defizitär erscheinender Existenzen nacheinander ausgeleuchtet werden. Ambivalenz charakterisiert ihr Wesen: Boves Helden sind zwar arme Schweine, gleichzeitig aber auch Kontrollfreaks der eigenen Gemütslage; sie sind auf Rettung aus, treten dabei aber nicht unbedingt demütig oder bescheiden auf.
Man erkennt spezifische Parameter, die den sozialen Status dieser Figuren und damit natürlich auch den Plot ein Stück weit definieren: Junge Männer, die ihre finanzielle oder psychische Misere erst gar nicht zu verhehlen suchen, sondern sich nichts sehnlicher wünschen, als dem Elend ihrer glanzlosen Existenz zu entkommen. Dabei können ihre Planungen recht drastisch geraten und sogar in einen (im vorliegenden Falle freilich geträumten) Mord an einem Bankier münden („Das Verbrechen einer Nacht“); sie können auch, wie in der Titelgeschichte, auf eine Selbsttötung zielen – was im übrigen nicht heißt, dass es dazu auch kommt. Eher hat man den Eindruck, mit dieser Option werde gezielt gespielt, um den Leser mit der Ungeheuerlichkeit einer solchen Tat zu konfrontieren – so als ob er, der Leser, daran noch etwas ändern könne.
Diese traurigen Gestalten sind also nicht nur bedingungslose Neurotiker, sondern auch minutiöse Selbstbeobachter: Als letzte moralische Instanz erkennen sie grundsätzlich nur sich selbst an, sprechen sich in der Regel von jeglicher Schuld frei, kehren ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Vorzüge heraus und machen klar, dass das Schicksal es mit ihnen nicht gut gemeint hat. Ihr Leben ist durch ein Kompensationsbestreben gekennzeichnet, das sie im Wesen definiert.
Allen Erzählungen ist eine einfach gehaltene Sprache zu eigen, ein Duktus, der der Verarmung ihrer Protagonisten entspricht. Es war Samuel Beckett, der Boves „Sinn für das Detail“, seine Vorliebe für die Beschreibung der dekorativen Nebensache, heraushob. Das stimmt, und dennoch gilt das mehr für die etwa zwanzig Romane Boves als für die Erzählungen. Den frühen Geschichten merkt man stellenweise noch eine gewisse Geschwätzigkeit an, die in den späteren Erzählungen (auf deutsch etwa in dem Band „Begegnung“, 2012) zugunsten einer psychologisch feinsinnigeren Charakterzeichnung vernachlässigt wird. Nichtsdestoweniger können die Bovianer hierzulande sich nun freuen, der deutschen Gesamtausgabe seiner Werke harren im Grunde nur noch zwei zu übersetzende Romane aus den 1930er Jahren. Die Edition diá in Berlin hat eine 22–bändige E–Book–Edition zu Bove herausgebracht, in der quasi alle (bis auf die im Suhrkamp Verlag erschienenen) Texte vereint sind; „Die Geschichte eines Wahnsinnigen“ gibt es als einziges Buch dieser Reihe nun auch in analoger, sprich: klassischer Taschenbuchform.
Emmanuel Bove: Geschichte eines Wahnsinnigen. Erzählungen. Aus dem Französischen von Martin Zingg. Edition diá, Berlin 2016, 150 S., 18.- €
aus biograph 11/2016
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