Das soll jetzt also der Abschluss sein, der vierte Teil dieser kurios-famosen Liebesbeziehung zwischen dem namenlosen Erzähler und der Modeschöpferin Marie; nach den Romanen „Sich lieben“ und „Fliehen“ sowie „Die Wahrheit über Marie“ nun also „Nackt“. Egal, wo die beiden sich tummeln auf der Welt – wiederkehrende Orte in diesen Romanen sind Tokio, Elba und Paris –, Marie bleibt ein Mysterium, obwohl man glaubt, sie zu kennen. Aber was heißt schon „kennen“? Ihren Wiedereintritt in die romaneske Welt des belgischen Romanciers begreifen wir als einen Hinweis darauf, dass allem Anschein nach doch noch nicht alles gesagt ist über Marie. Noch immer ist da das ungeklärte wo nicht unerklärbare Liebesverhältnis zwischen den beiden Figuren, das vor allem von seiner Seite her erneut in Frage gestellt wird. Diese Beziehung – ein diskutabler Begriff – manifestiert sich vornehmlich als ein ständiges Lavieren zwischen Flüchten oder Standhalten, einem bedenklichen Nicht-mit-dem-Anderen-leben- und (vor allem) Nicht-von-ihm-lassen-Können.
Denn das ist das eigentliche Thema bei Jean-Philippe Toussaint. Wann immer eine – und sei's nur kurze – Trennung der beiden stattgefunden hat, ist vor allem er, der Mann, nicht mehr wiederzuerkennen, während Marie scheinbar einfach so weitermacht wie bisher (man weiß das allerdings nicht mit Sicherheit, schließlich erfährt man ja nur seine Sicht auf die Dinge). Von einem Trip zurück in Paris, in seiner eigenen Wohnung, befällt ihn Niedergeschlagenheit, Wochen vergehen, ohne dass Marie sich meldet, und der Frustrierte beklagt ihre „absolute Unbekümmertheit“. Natürlich weiß er auch um ihre Fehler, aber das nützt ja nichts, denn schließlich besitzt sie etwas, was ihn betört, womöglich eine Art Magie, zweimal spricht er (etwas gravitätisch) von einer „ozeanischen Disposition“ bei Marie und meint ihr Einssein mit der Welt, das ihm wohl von Grund auf abgeht, eine Natürlichkeit, die ihr angeboren sei, deshalb auch ihre Marotte – siehe Titel –, sich „bei der kleinsten sich bietenden Gelegenheit nackt zu zeigen“. Aber so richtig nackt, also verletzlich, ist wohl eher er: der notorisch und etwas unglücklich verliebt erscheinende Mann reagiert eher verstört auf die emotionalen Aggregatzustände seines Begehrens. Und wie er es dreht und wendet (und das hat mitunter höchst drollige Züge) – alles entgleitet ihm genau in dem Maße, wie er es gerade zu kontrollieren sucht.
Die konzeptionelle Undeutlichkeit Maries, ihre Nichtgreifbarkeit, zwingt unseren Helden zum Überdenken, zu Positionsveränderungen, die er überhaupt nicht haben will, besonders deutlich in der letzten Szene des Romans: Als beide zu einer Beerdigung nach Elba fahren und sie sich auf dem Friedhof übergeben muss, er das mit dem dort herrschenden, beißenden Geruch einer abgebrannten Schokoladenfabrik in Verbindung bringt, klärt sie den ewig Ahnungslosen auf: sie sei schwanger. Und die Reaktion bei ihm? Weder Freude noch Bestürzung, man weiß und erfährt nicht, wie er wirklich damit umgeht, nicht einmal mit letzter Sicherheit, ob er überhaupt als potentieller Vater in Frage kommt. Stattdessen ist da am Ende eine berührende Liebesszene, in der endlich sie mal so richtig und tatsächlich Gefühle zeigt, ihn fragt: „Aber du liebst mich ja?“ Man hätte einen solch emotionalen Ausbruch von ihr schon nicht mehr erwartet.
Jean-Philippe Toussaint: Nackt. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 2014, 158 S., 19.90 €
aus biograph 12/2014
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