Das Werk des mittlerweile 67-jährigen Patrick Modiano ist ebenso umfangreich wie unspektakulär in seiner Art, man darf sagen: absolut einzigartig. Seitens der Kritik wurde ihm mehrfach schon vorgeworfen, er würde jetzt schon seit Jahrzehnten immer wieder dasselbe Buch schreiben – was natürlich Unsinn ist. Seine Themen mögen sich dem Schein nach wiederholen, doch gibt es im Erzählten stets feine tektonische Verschiebungen, bedeutsam werdende Perspektivenwechsel, Modiano ist im Grunde ebenso ein Spurensammler wie ein Fährtenverwischer – beste Voraussetzungen für eine Literatur der Schwebe. Seine Romane spielen oftmals in einem fernen, untergegangenen Paris, nämlich dem der Nachkriegsjahre, in das er selbst hineingeboren wurde, ihn interessiert, wenn man sein gesamtes Werk betrachtet, vor allem die Zeit zwischen 1940 und 1970, von der Okkupation und den Judendeportationen in Frankreich etwa bis hin zu den revolutionären Ausschlägen der Studentenrevolte. Da erscheint es ganz nebenher sogar aufschlussreich, der aufgeworfenen Topographie zu folgen, weil hier ein Flaneur im Geiste klassischer Parisautoren unterwegs ist. Doch um es klar zu sagen: bei aller scheinbarer Rückwärtsgewandtheit wird hier nichts nostalgisch verklärt.
Ein Spurensammler also: Modiano interessiert sich für jene Figuren, deren Existenz so flüchtig, schemenhaft und vage ist, dass man erst allerlei Recherchen betreiben muss, um ihnen einigermaßen habhaft zu werden. Im vorliegenden Falle geht es um eine 22-jährige Streunerin namens Louki, die immer wieder, allerdings nie zu einer festen Zeit, das Café „Condé“ aufsucht. Der Ort gilt als Treffpunkt der „verlorenen Jugend“, ein typisches Boheme-Ambiente, man versäuft sein Geld, man macht sich keine Sorgen um die Zukunft. Aus vier verschiedenen Erzählerperspektiven wird nun der Versuch unternommen, dieser Frau eine Kontur zu geben, es sind tastende Annäherungen, Umkreisungen mit vager Deutung, mehr nicht. Louki bleibt, um ein Heidegger-Wort zu bemühen, ein „Wesen der Ferne“, ätherisch, schattengleich. Man erfährt, wie sie nach dem Tod ihrer Mutter und der Trennung von ihrem Mann ihrer Streunerrouten ausbaut und wie das Reißausnehmen für sie zur echten Droge wird. Dazu passt, dass sie eine gewisse Jeanette kennenlernt, die sie mit Rauschgift in Kontakt bringt. Louki wird sich am Ende vollgekifft von einem Balkon stürzen, wohl nicht aus Verzweiflung, darf man vermuten, sondern eher um eine andere Form des Schwebens willens. Wobei es aber eigentlich nicht um dieses – zugegeben tragische – Ende geht. Das meiste ist hier wunderbar unkonkret oder bleibt nur angedeutet oder gleich ganz ungesagt, denn Modiano geht es nie um die Ausformulierung eines plots. All die detektivisch aufgelisteten Parameter – Straßennamen, Telefonnummern, Adressen – dienen auch nicht dazu, ein angenommenes Bild zu konkretisieren und/oder die Hauptfigur und ihre Motive offenzulegen. Mit dieser wohldosierten Technik der Unschärfe schafft es Modiano aber großartig, eine unterschwellige Spannung aufrechtzuerhalten. Die hohe Kunst dieser Schreibweise ist letztlich ihr leichter Tonfall, eine Diktion, die einem sogleich vertraut erscheint, während die Abgründe sich geradezu unmerklich immer weiter auftun. Es wäre hohe Zeit, Modiano hierzulande nicht mehr nur als Geheimtipp zu handeln.
Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2012, 158 S., 16.90 €
aus biograph 5/2012
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