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Alle außer ich - Die Wahl der Qual

Die biograph Ouvertüre September 2017

Ich werde Kanzler. Ich will das nicht wirklich, aber ich muss. Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, wen ich denn wählen soll, und am Ende bin ich komplett ratlos gewesen. Ich wusste nach eingehendem Studium der Wahlprogramme und der sie vertretenden Personen sehr genau, dass alle unwählbar sind. Alle! Alle außer ich.

Ich muss jetzt ran, wenn ich verhindern will, dass jene gewinnen, die mehr auf gut sitzende Anzüge und stylische Plakate setzen als auf Inhalte, deren Plakate mehr nach Hemdenwerbung aussehen als nach Politik. Überhaupt: Inhalte. Wie gestern ist das denn? Es reicht doch notfalls eine schwarze Fläche mit meinem Namen drin. Botschaft? Come on.

Wer braucht Inhalte, wenn er Mutti hat. Sie kennen mich, signalisiert sie ein ums andere Mal und verweigert sich allen Auseinandersetzungen. Einfach weiter so, lautet das Motto. Wird schon irgendwie gehen.

Und Vati ist auch keine Alternative. Der mag ja ambitionierte Vorstellungen hinter seinem Fusselbärtchen verbergen, aber er hat immer noch diese Agenda-2010-Partei samt dubios agierendem Ex-Kanzler am Bein, die in ihrer ewigen Gestrigkeit zuverlässig verhindert, dass es um morgen geht.

Früher war ich ja gerne bei den etwas Aufmüpfigen, bei jenen, die sich sorgten um das, was morgen mit diesem Planeten passieren wird. Inzwischen liegt ihnen aber die Sorge, was mit dem größten Autobauer am Ort passiert und ob sie nach der nächsten Wahl noch ein Amt haben, näher als das Kümmern um die Zukunft. Das Grüne, was man sieht, kann da durchaus auch Schimmel sein.

Auch in den Rändern findet sich nicht Genießbares. Auf der einen Seite der braune Sumpf, auf der anderen eine verworrene Masse, die gelegentlich unter Rechts-Links-Schwäche zu leiden hat.

Dann doch vielleicht lieber jene, die sagen, dass sie der Krise ein Gesicht geben und einen Komödianten aufstellen? Ich weiß nicht. Wenn ich die Gesicht gewordene Krise sehen will, schaue ich morgens in den Spiegel und studiere dort etwas, das mittlerweile mehr der Grachtenkarte von Amsterdam ähnelt als dem, der ich einst zu sein glaubte.

Trotzdem halte ich mich selbst für den einzig wählbaren Kanzlerkandidaten. Ich wäre schließlich ein prima Repräsentant für all die Energielosen, die morgens voller Elan aus dem Bett springen und dann gleich wieder zurücktaumeln auf die Schlafstatt, weil das alles doch eh nichts bringt.

Ich gründe die Partei der Liegenbleiber, also jener, die sich gar nicht erst aus dem Haus bewegen und dadurch die Luft nicht verpesten. Ich fordere für die Menschen ein Gehverbot und 23 Stunden Schlaf am Tag. Keiner braucht Diesel, wenn alle meinem Programm folgen. Feinstaub adé.

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, hat der französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal einst gesagt und damit schon im 17. Jahrhundert den Nagel auf den Kopf getroffen.

Meine Partei ist eine Absage an alle, die das Besondere immer da draußen wähnen, die sich nicht bescheiden können mit dem, was so nahe liegt. Fernreisen werden mit mir als Kanzler zehnmal so teuer, weil die wahre Exotik gleich nebenan liegt. Schon mal in der Proletenkneipe drei Häuser weiter gewesen? Dort, wo sie Schnappatmung kriegen, wenn sie sturzbesoffen Helene Fischer mitgrölen? Das ist Exotik von echten Eingeborenen. Da bedarf es nur weniger Schritte. Steht in keinem Reiseführer.

Meine Partei ist übrigens gegen Bildung. Warum? Weil alle anderen für Bildung sind. Mit Bildung wird immer alles begründet. Steuern rauf? Ja, aber für die Bildung. Sagen sie, und ein paar Jahre danach wird dann umgeschichtet in bildungsferne Bereiche. Keine jener Gestalten, die von Bildung palavern, meint Bildung. Weil Bildung letztlich gefährlich ist. Gebildete Menschen dürsten nach einem Mehr, das sich nicht allein im Materiellen und im Wachstumsglauben erschöpft. Wo soll das hinführen?

Wie schön wäre doch diese Welt, wenn wir alle dumm blieben. Wenn wir einfallslos durch die Gegend trotteten und ohne geistige Ansprüche wären. Zufrieden mit Dieter Bohlen, McDonald’s und RTL. Gut regierbar.

Dafür will ich arbeiten. Dass alle Menschen gleich blöd werden oder bleiben oder was auch immer. Das ist der Kern meines Wahlprogramms. Deshalb will ich Kanzler werden.

Wie bitte? Was sagen Sie da? Das sei genau das, was die anderen Parteien in Wahrheit im Schilde führen? Echt jetzt? Dann wäre meine Kandidatur ja komplett überflüssig.

Darüber muss ich erst einmal ein paar Monate nachdenken. Ich lege mich wieder hin und überlege. Kann ein paar Monate dauern. Ich trete dann halt erst an zur Wahl in 2021. Wenn ich rechtzeitig wach werde.

Hans Hoff

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