Eigentlich war das ein Weile auch ganz schön mit dem Abstand. Rück mir nicht auf die Pelle, lautete das Gebot, und bei so mancher Begegnung mit so manchen Gestalten kam das Distanzgebot einem Segen gleich. Schluss mit dem sinnentleerten Bussi hier, Bussi da bei beinahe wildfremden Menschen.
Aversion machte sich breit, wenn irgendwer zu nahe kam. Menschen, an denen man sich früher im Gedränge lustvoll vorbeigekuschelt hatte, wurden zur Bedrohung, selbst wenn sie auf der anderen Seite des Gehweges entlang schlichen. Wer hustete, war verdächtig, wer niesen musste, galt als potentieller Mörder, was Spaziergänge einer Flucht ähneln ließ, weil nur im heimischen Nest Sicherheit gewährleistet schien.
Und nun wieder rausgehen? Neu den Umgang mit anderen lernen? Mit all den Ängsten, die ja nicht einfach so weggehen? Ja, wieder rausgehen, neu lernen, Ängste bekämpfen, dem Gemeinwesen wieder den im Wort vorgegebenen Sinn geben. Eine Stadt ohne Miteinander ist keine Stadt. Eine Stadt ohne Begegnung funktioniert nicht.
Und das Risiko? Das bleibt. So lange kein Impfstoff Sicherheit gibt, heißt es, sich einrichten auf die Bedrohung, heißt es aber auch, die Bedrohung zu ertragen, ein bisschen zu beherrschen, im Inneren wie im Äußeren. Gefragt ist individuelle Gefahrenkalkulation. Jedes Jahr sterben Tausende im Straßenverkehr. Trotzdem werden Autos nicht abgeschafft. Der Mensch hat gelernt, mit dem Risiko umzugehen. Und Fahrradhelme? Sehen immer noch doof aus, auch wenn sie nachweislich Leben retten. Wer keinen trägt, hat eine Abwägung getroffen zwischen gut aussehen und potentiellem Schädel-Hirn-Trauma.
Ja, es kann mich treffen, das weiß jeder. Aber es hat mich doch bei meinen bisherigen 5000 Fahrten nicht getroffen, da wird es mich doch auch bei meinen nächsten 5000 Fahrten nicht treffen. So denkt der Mensch. Es klingt ein bisschen stupide, ist aber gelebte und oft auch strapazierte Praxis. Im Prinzip ist das ganze Leben eine einzige Risikoabwägung. Wer vor die Tür tritt, kann sterben. Wer zu Hause bleibt, stirbt auch. Nur eben später.
Nun ist ein Risiko hinzu gekommen, das es einzuordnen gilt. Die neue Kunst besteht darin, Ängste zu erkennen und sie zu unterscheiden in begründete und irrationale. Vor allem besteht sie darin, nicht jenen Scharlatanen auf den Leim zu gehen, die ihre einfachen Wahrheiten im Mäntelchen einer Grundrechtsverteidigung präsentieren und auf Zuhörer und Zuseher hoffen, die erschöpft sind von der aktuellen Kompliziertheit des Lebens, die in schweren Zeiten nach einfachen Lösungen suchen. Verunsicherte und Denkfaule kann man am leichtesten abfischen, wenn man mit Klicks sein Geld verdient.
Es gehört zu den schmerzlichen Erkenntnissen, dass sich bei fast jedem im Bekanntenkreis verirrte Seelen finden lassen, die meinen, die Krise gehe schon weg, wenn sie nur oft auf irgendein KenFM-Video klicken. Das sind Menschen, die man sonst gerne um sich hatte, mit denen man aber nie tiefere Gespräche führte, die sich nun aber als leicht fangbare Seelen entpuppen und dies via Facebook, Instagram oder Whatsapp auch noch lauthals kundtun.
Es stellt sich die Frage, wer von denen noch zurückzuholen ist auf den Boden der wirklichen Tatsachen. Wo lohnt die Mühe, zu argumentieren? Wen gibt man besser gleich verloren, weil der Kampf „Fakten gegen gefühlte Wahrheit“ nur selten zu gewinnen ist und ungeheuer viel Kraft kostet. Kraft, die gebraucht wird, um die eigene Position zu bestimmen und abzusichern.
Das Leben muss neu gelernt werden. So schwer das ist. Es ist aber auch eine Chance, Dinge anders anzugehen und überfällige Fragen zu stellen. Was ist von einer Wirtschaft zu halten, die in die Knie geht, nur weil Menschen drei Monate lang lediglich das Nötigste kaufen und auch künftig auf Dinge verzichten, die sie nicht vermisst haben?
Auf jeden Fall muss nicht nur das aufeinander Zugehen neu gelernt werden. Auch das nebeneinander Sitzen im Kinosaal, im Theater, im Club ist eine Übung, die anfangs erst einmal mit vielen unschönen Gedanken, mit viel innerem Zittern durchstanden werden will. Vielleicht braucht es zehn Filme, 20 Lesungen und 30 Konzerte, bis deutlich wird, dass es schon geht, dass man sich nicht zwangsläufig ansteckt an den wenigen Zuschauern, die noch erlaubt sind, dass die großen Beschränkungen draußen im Großen, die waren, die gelten und die vielleicht noch kommen werden, zwar starke Eingriffe in verbriefte Grundrechte darstellen, dass sie aber sinnvolle Maßnahmen waren und sind, die den Schutz drinnen im Kleinen gewährleisten.
Selbst wenn nun jeder am Eingang Autogramme geben und seine Adresse hinterlassen muss, selbst wenn die Maske zum stetigen Begleiter wird, selbst wenn die Unsicherheit mitkommt zur Kultur, führt kein Weg an einer behutsamen Öffnung vorbei. „Eine Herausforderung, die Flexibilität und Fantasie erfordert“, nannte Igor Levit die Aussicht, dass alle Konzerthäuser noch lange nur ein reduziertes Publikum empfangen können. Wozu sind Herausforderungen da? Sie möchten angenommen werden. Das wird nicht leicht, keine Frage.
Aber den Alltag immer wieder neu lernen, Risiken erkennen und beherrschen, das macht das Dasein aus. Wieder zurückfinden in die Gemeinschaft und nicht dahin vegetieren als Masse von Versprengten in abgeschotteten Wohnhöhlen, das ist die große Aufgabe, die jeder neue Tag stellt.
Keiner hat gesagt, dass es leicht werden würde. Allerdings hat auch keiner gesagt, dass es so hart werden würde. Aber so ist sie nun mal, diese Sache, die sie Leben nennen.
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