Wie mehrere Karnevalsclowns übereinstimmend haben verlauten lassen, darf sich 2015 nicht wiederholen. Ich bin selten einer Meinung mit Karnevalsclowns, aber in diesem Punkt haben sie recht. Vor allem darf sich der 4. August 2015 niemals wiederholen, denn da hatte ich Geburtstag. Ich erinnere mich noch, wie ich nachmittags in schwüler Hitze auf der A61 irgendwo vor Koblenz im Stau stand und ein heftiger Regenschauer auf mein nicht klimatisiertes Gefährt niederging, während ich im Innenraum mit meiner Liebsten den Streit des Jahres ausfocht. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber es war so heftig, dass ich absolut der Meinung bin, dass sich 2015 nicht wiederholen darf.
Nein, ich möchte diesen Streit vom 4. August 2015 nicht zurück. Nicht für alles Geld der Welt. Ist vorbei. Gone gone the damage done. Gelebte Zeit ist weg, flüchtig und höchstens noch ein Gedankenkonstrukt in irgendeinem hyperaktiven Hirncampus.
Natürlich können solche Konstrukte Probleme bereiten, wenn sie denn das Denken und Tun im Jetzt beeinträchtigen. Aber damit kann man umgehen. Nicht ohne Grund haben wir den Begriff Vergangenheitsbewältigung erfunden. In Vergangenheitsbewältigung sind wir gut, das haben wir gelernt. Wir sind in Sachen Vergangenheitsbewältigung sogar so gut, dass uns über die Freude der Beherrschung der Vergangenheitsbewältigungskunst glatt die Fähigkeit der Gegenwartsbewältigung abhanden gekommen ist.
Mir fiel das kürzlich auf, als ich einen Ausflug in die Hässlichkeit unternahm. Ich wanderte zum Gustaf-Gründgens-Platz und durchquerte dabei das so genannte Ingenhovental, das trotz all der Lobeshymnen umhätschelter Architekturkritiker auf der einen Seite nichts weiter ist als notdürftig grün kaschierter Stahl-und-Betonhorror, auf der anderen Seite nur eine dreieckig ausgedörrte Rasenfläche, die niemals so saftig grün anzusehen war, wie sie auf den Plänen wirkte.
Dieses Tal ist nach dem Kö-Bogen ein weiteres nicht eingelöstes Versprechen einer Architektenbande, die es immer wieder schafft, der Politik mit großen Grün-Versprechungen Zugeständnisse abzuringen, um nachher Hässlichkeit aus dem Boden schießen zu lassen. Daran sollte man denken, wenn man nun die Oper plant.
Ich kam dann auf den immer noch nicht wohnlichen Gustaf-Gründgens-Platz und bestaunte die dort als Schauspielkulisse verteilten Flugzeugteile, die plötzlich alle nach Apokalypse rochen. Als ich dem Schauspielhaus meinen Rücken zeigte und gen Südwesten schaute, entdeckte ich hinter einem Flugzeugteil eine Sichtachse. Die führt vom Platz durch das Ingenhovental direkt zum P&C-Gebäude, so als hätten die Kaufhausmanager das ganze Bauprojekt selbst ersonnen, um ihr Haus in den Fokus zu setzen.
Ich schaute also an dem Flugzeugteil vorbei durch das Hässlich-Tal auf das glänzende P&C-Anwesen, und in dem Moment leuchtete dort eine Reklame auf, die mir den perfekten Kommentar zum Zustand der Welt lieferte. „Final Sale“ stand dort. Ich übersetzte das mit „endgültiger Ausverkauf“. Plötzlich machte alles Sinn: Das Flugzeugteil, die Hässlichkeit des Ingenhoventals, der Glitzer am Konsumtempel.
Natürlich haben die Vorgänge in Kabul, die Pandemie, die vielen Waldbrände rund um die Welt, die Flut im Ahr- und Erfttal nicht direkt zu tun mit dem Sommerschlussverkauf in der Düsseldorfer Innenstadt, aber der Werbespruch stand da trotzdem wie ein die galoppierende Wohlstandsverwahrlosung beschreibendes Menetekel: Final Sale.
Ich habe ehrlich gesagt Schwierigkeiten, all das, was in diesem Final Sale auf mich einströmt, zu verarbeiten. Das Gefühl, dass die Erde überall bröckelt, will nicht mehr weg gehen. In solchen Momenten, in denen ich die Gegenwart nicht mehr bewältigt kriege, sehne ich mich manchmal doch zurück zum 4. August auf der A61, zum prasselnden Regen, zum Familienkrach. Wie einfach meine Probleme damals waren. Ganz ehrlich: Böte mir an der nächsten Ecke jemand an, das gebrauchte Jahr 2015 in die Wiederholungsschleife zu schicken, ich würde das Angebot annehmen.
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