Wenn man einen Text für eine deutsche Qualitätszeitung schreiben will, muss man im ersten Absatz erst einmal beweisen, dass man literarisch was drauf hat, dass man irgendwen zitieren kann, der irgendwann mal was Kluges zu Papier gebracht hat. Erst dann ist man aufgestiegen in die Riege der Edelfedern.
Nun ja, hier beginnt der zweite Absatz, und damit ist klar: Chance verpasst. Aber ein bisschen was lässt sich nachtragen. Hier ein bisschen Gedicht: „Still ruht die Stadt. Es wogt die Flur. / Die Menschheit geht auf Reisen / oder wandert sehr oder wandelt nur. / Und die Bauern vermieten die Natur zu sehenswerten Preisen.“ Das ist der Beginn von „Juli“, jenem Gedicht, mit dem Erich Kästner so wundersam diesen eigenartigen Monat beschrieb.
Doch nun habe es ein Ende mit der Bildungshuberei, denn eigentlich wollte ich nur zeigen, wie leer Worte sein können, wenn sie nicht in erster Linie etwas aussagen, sondern vor allem auf das Renommee-Konto des Autors einzahlen sollen.
Es sind einfach zu viele geschriebene Worte in der Welt, und es sind inzwischen nicht wenige Tage, an denen die Zahl der nutzlosen Worte sich die Waage hält mit der Zahl jener, die einfach nur da sind, um ihrem Schöpfer das Gefühl zu geben, bedeutend zu sein. Ich schreibe, also bin ich, lautet das zugehörige Motto, das sich im Lockdown vielfach selbst bekräftigte, weil man halt als Leser angewiesen war auf das, was von außen hereinkam. Es gab ja jenseits der Familie kaum jemanden zum Reden.
Man spricht in der Ernährungswissenschaft gerne mal von den leeren Kalorien. Die frisst man in sich hinein, obwohl sie für ein gesundes Leben gänzlich nutzlos sind. Sie mögen manchmal in leckerer Form daherkommen, aber in Wahrheit braucht sie kein Mensch.
Genau so verhält es sich mit den leeren Worten, mit Texten, nach denen man allenfalls mal kurz aufstoßen möchte, die aber keinerlei Effekt haben für einen gesunden Geist. Davon, also von den nutzlosen Texten, sind eindeutig zu viele auf der Welt. Zu viele Menschen schreiben und belästigen damit zu viele Menschen, die das lesen sollen.
Natürlich ist es paradox, einen Text zu verfassen, der sich mit der Inhaltsleere anderer Texte befasst. Zu groß die Gefahr, dass just diese Zeilen in die Kategorie der beklagten leeren Worte fallen, dass ihre Lektüre im Auge des Betrachters als vertane Zeit kategorisiert wird.
Nun ist das so schlimm auch nicht, denn der Mensch in diesen Zeiten („in diesen Zeiten“ – klassisches Beispiel für eine Leerformel) ist ganz offenbar gewöhnt, viel zu lesen und wenig bis nichts mitgeteilt zu bekommen. Schön hat man das gesehen an all den Berichten über die Fußball-EM. Prima lässt sich das auch belegen an den bereits angehäuften Texten über den Zustand der Parteien hinsichtlich der am 26. September anstehenden Bundestagswahl. Da wird viel geschrieben und wenig gesagt. Wie könnte man es jemanden verübeln, sagte er angesichts dieses Wortmülls: „Weck mich am 25. September, dann befasse ich mich gründlich mit der Sache, aber vorher hätte ich gerne meine Ruhe.“
Das hat natürlich auch und vor allem zu tun mit der allgemeinen Aufgeregtheit, die sich in Tagen der Abgeschlossenheit, in der man kaum Face-to-Face-Kontakte hatte, medial breit gemacht hat. Diese Aufgeregtheit wird heiß gehandelt auf den asozialen Märkten wie Twitter oder Facebook oder Telegram, wo Aufgeregtheit, und möge sie noch so künstlich sein, die top-angesagte Währung auf dem Kommunikationsparkett ist, quasi der Bitcoin unter den Ansichten. Ich rege mich auf, also bin ich.
Das Interessante dabei ist, dass es keinen Mangel gibt an Gelegenheiten, sich aufzuregen. Man darf sich über alles aufregen, man darf auch die kleinste Kleinigkeit zum Anlass nehmen, ein Riesengeschrei zu veranstalten und sich persönlich beleidigt zu fühlen. Der britische Komiker Ricky Gervais hat dieses Aufregungsbegehren mancher Twitter-Nutzer mal sehr schön dargestellt. Er hat sich dabei gewundert über Menschen, die er niemals eingeladen hat, ihm zu folgen, die ihn aber, anstatt ihn kurz zu entfolgen, übelst beschimpfen für das, was er schreibt. Gervais verglich das mit einem Typen, der auf einem Marktplatz eine Anzeige für Gitarrenunterricht sieht. Anstatt einfach weiterzugehen, bekommt er einen Wutanfall und brüllt „I don’t fucking want guitar lessons.“ Doch nicht nur das. Der Typ tippt dann noch die angegebene Nummer in sein Smartphone, und als sich der Gitarrenlehrer meldet, brüllt er auch in den Hörer: „I don’t fucking want guitar lessons.“
Und wenn ihn dann alle Umstehenden pikiert anschauen, weil ja alle, die brüllen, immer erst mal unrecht haben, wird er wahrscheinlich noch sagen, dass man „in diesen Zeiten“ gar nicht mehr sagen dürfe, was man denke. Es wird also keine Gelegenheit ausgelassen, in der Aufregungsspirale noch ein Level höher zu wandern.
Ähnlich funktioniert die Debatte übers Gendern in der Sprache. Die besteht zu 99 Prozent aus künstlicher Aufregung von Menschen, die der Meinung sind, dass sie und ihre Auffassung nunmal den Nabel der Welt bilden und sich ein jeder nach ihnen zu richten habe. Wie sagt man dazu so schön: What the fuck!
Wenn ich schreibe, und ich werde verstanden, dann ist völlig okay, wie ich schreibe. Ein Problem habe ich erst, wenn ich nicht verstanden werde. Sprache funktioniert in der Verhandlung zwischen Sender und Empfänger, und wenn der Empfänger nicht kapiert, was ich sagen will, sollte ich es vielleicht anders sagen. Oder derjenige, der nicht versteht, ist einfach nicht gemeint. So einfach ist das.
Und dann ist da noch der Juli, jener Monat, in dem wir uns nach langen Monaten der Abgeschlossenheit wieder raus bewegen, in dem wir wieder Menschen treffen, in dem wir uns unterhalten und feststellen, dass die Menschen, die man trifft, gar nicht so bescheuert sind, wie es auf Twitter, Facebook oder in manchen Zeitungen wirkt.
Man kann mit diesen Menschen reden in freundlichem Ton. Man muss nicht ihrer Meinung sein. Man kann sich sogar streiten. Aber man wird merken, dass ein Streit, sagen wir mal an der Rheinpromenade, kein Grund ist, sich anzubrüllen oder sich künftig aus dem Weg zu gehen. Man spricht doch gerne davon, dass sich über etwas trefflich streiten lässt. Darin liegt doch die Erkenntnis, dass Streit nichts Schlimmes ist, vielmehr etwas Fruchtbares, das im besten Fall beide Parteien weiter bringt.
Vor allem aber bringt der treffliche Streit die Erkenntnis, dass die Welt, dass das Leben, dass die Menschen besser sind, als uns Twitter und Facebook weiß machen wollen. Lesen wir also weniger Mist, konsumieren wir weniger leere Worte. Gehen wir lieber raus und suchen uns jemandem zum trefflichen Streiten. Und hinterher trinken wir gemeinsam ein Alt. So geht Leben.
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