Ich will nicht klagen. Klagen ist langweilig und so was von 2020. Natürlich gibt es genügend Gründe zur Klage. Wäre ich Anwalt, stünde meine Aktie an der Spitze des Börsen-Rankings. Aber ich bin kein Anwalt, ich bin Mensch, und als solcher bekommt mir das dauerhafte Klagen nicht.
Schneeglöckchen, Krokusse, Narzissen. Zack, da sind aktuell meine drei Stimmungsaufheller, garantiert 100 Prozent vegan und nachhaltig. Zudem bunt. Das Trio hellt in diesen Wochen meine Seele auf, wischt in meinem Gefühlshaushalt mal kurz feucht durch, wo sich klebrig-zähe Depressionsanhaftungen breitzumachen drohten. Wie schön, dass es den nahenden Frühling gibt, meine liebste Jahreszeit, die man auch als Jahreszeit gewordenen Optimismus vereinnahmen könnte.
Ja, ich weiß Optimismus ist nur ein Mangel an Information. Sagt der Pessimist. Natürlich ist Optimismus immer auch ein bisschen Selbstbetrug. Aber bitteschön, mir ist gerade ein bisschen nach Selbstbetrug. Ich nenne es nicht Selbstbetrug, ich nenne es Hoffnung, immer noch, und ich setze die Hoffnung gegen diese grauenhafte Müdigkeit, diese Auslaugung meiner Möglichkeiten.
Mein momentaner Zustand ähnelt ein wenig dem eines erschöpften Bergwanderers, der nicht mehr zu können glaubt, den der Rucksack drückt, dem die Knie wehtun und dem der Atem kürzer geht. Doch dann kommt der Bergführer und sagt „Nur noch drei Kehren“. Dann sind wir da, verspricht er und gibt eine Überdosis Optimismus aus. „Nur noch drei Kehren.“ Stimmt natürlich nicht. In Wahrheit sind es noch 30 oder 40 Kehren. Gefühlt sind es Hunderte. Aber kaum sind die drei versprochenen Kehren bewältigt, sagt er noch einmal „Nur noch drei Kehren“. Und tatsächlich, es geht. Ich nehme ihm seine Flunkerei nicht einmal übel, auch wenn ich ihm in dem Moment, da er zum fünften Mal „Nur noch drei Kehren“ sagt, am liebsten juckende Krätze an den Hals wünschen würde.
Natürlich mangelt es zur Zeit an Bergkundigen, denen man sich anvertrauen mag. Je länger die Wanderung dauert, desto deutlicher wird, dass jene, die da die Richtung vorgeben wollen, genauso hilflos sind wie alle anderen auch. Aber hilft es mir, wenn ich das lauthals beschreie, wenn ich jede Verzögerung in was für einem Prozess auch immer gleich lauthals beklage? Soll ich alles beschreien, was mir nicht passt?
Was sollte ich sagen gegen die Öffnung von Baumärkten und Friseursalons? Warum soll ich zum hundertsten Mal anprangern, dass die Kultur zu kurz kommt? Hat das in den vergangenen Wochen und Monaten irgendetwas genützt?
Doch, es war von Nutzen. Klagen tut gut. Klagen reinigt auch die Seele. Wer klagt, zeigt, dass er noch über Vitalfunktionen verfügt. Aber irgendwann ist auch genug. Dann schädigt das dauernde Klagen den Antrieb, dann liegt es nahe, sich einfach auf den Weg fallen zu lassen und den anderen zu sagen „Lasst mich hier liegen. Allein könnt ihr es schaffen.“
Aber warum aufgeben? Jetzt, da das Ziel doch in greifbarer Nähe liegt. Nur noch drei Kehren entfernt.
Wie wäre es, sich nicht mehr täglich im covidischen Wort-Yoga zu üben und den Körper beim Aussprechen von frischem Wortmüll wie Verweilverbot, Überbrückungshilfe oder AHA-Regel zu strecken. Wie wäre es, stattdessen den Blick auf die vermeintlichen Kleinigkeiten zu richten, die das Leben an den Wegesrand gesetzt hat. Ich sage nur: Schneeglöckchen, Krokusse, Narzissen.
Natürlich sind das nur Bilder. Hirngespinste. Phantastereien. Aber WTF? Warum nicht? Warum nicht mal kurz den Blick abwenden von dem, was nicht geht? Warum nicht sehen, was geht, und es geht doch so einiges.
Wir können noch lachen, wir können noch tanzen, wir können noch sehen. Ich möchte mir das bewahren, ich lass mich nicht hängen. Ich bestehe darauf, Optimist zu bleiben, notfalls auch das Gute im Schlechten zu sehen.
Und wenn Freunde kommen und nur klagen können, habe ich inzwischen auch ein Gegenmittel gefunden. Wenn sie mäkeln, wie schlecht alles ist und wie unfähig „die da oben“ sind, dann erfinde ich ein schlimmes persönliches Problem. Liebeskummer, Zipperlein im Rücken, Schmerzen im Fuß. Das dramatisiere ich als Shakespeare von Bilk bis zum Exzess. Ich mache das solange, bis mir meine Freunde Trost spenden, weil sie echt ergriffen sind von meinen Erzählungen.
Ich spüre dann, wie sie loslassen von ihren Klagen, wie sie sich ganz mir, ihrem Nächsten, widmen, wie sie ihre Kraft wiederentdecken, das Gefühl, dass da noch vieles geht, obwohl man doch gerade noch dachte, dass nichts mehr geht.
Wenn ich dann gestehe, dass ich geflunkert habe, sind sie mir nicht einmal böse, weil sie eben gerade gemerkt haben, dass ihnen das Trösten anderer gut getan hat, dass sie können, was sie nicht mehr zu können glaubten.
Und wenn sie dann doch noch böse sind, empfehle ich eine Fahrt zum „Erinnerungsort Alter Schlachthof“, wo outdoor und virtuell jene Verbrechen dokumentiert sind, die im Zweiten Weltkrieg an dieser Stelle oder von dieser Stelle aus verübt wurden. Dann schaue ich meinen Freunden in die Augen und sage: „Du findest dein Leben gerade schlimm? Dann schau hierhin. Das war schlimm.“
Danach herrscht dann meist andächtige Stille, dann sind die Verhältnisse wieder ins Lot gerückt.
Zusätzlich empfehle ich dann noch den Blick auf Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen.
Nur noch drei Kehren.
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