Als ich kürzlich mal durch die Wallstraße ging, durchströmte mich ein besonderes Gefühl. Es war eine Art Flashback, es katapultierte mich zurück in eine Zeit, da Emotionen noch nicht durchdigitalisiert und an jedem Smartphone verfügbar waren, als es noch kein Spotify gab, als man am Radio noch lange drehen musste, um mal einen englischen Song zu hören. Kurzum, es war die Zeit des magischen Vinyls, der Schallplatte. Es durchfuhr mich, als ich vor „Hitsville“ stand und dort auf das Angebot starrte. Es entfleuchte mir ein Seufzer. „Schallplatten“, raunte ich, und ich klang wie ein Kind, das, wenn es etwas Besonderes sieht, die Hand ausstreckt und „da, da, da“ sagt.
Ja, es gibt sie noch, die kleinen Läden, wo man Schallplatten kaufen kann. In den Schadow-Arkaden stößt man noch auf ein erlesenes Angebot und eben in der Wallstraße. Aber es gab mal so viel mehr.
Ich erinnere mich, wie ich früher meine Runden durch die Stadt drehte, wie ich von Schallplattenladen zu Schallplattenladen wanderte und überall blätterte in den schweren Stapeln voll mit akkurat verpacktem Vinyl, dem schwarzen Klanggold. Was allein auf der Flinger Straße los war. Bei Radio Sülz beispielsweise, wo es Kabinen gab, in die man die Schallplatten mit hineinnehmen konnte und dort auf Kauftauglichkeit prüfen konnte. Wir prüften stets sehr ausgiebig und kauften selten. Wir prüften, bis ein Verkäufer auftauchte und uns freundlich aber bestimmt zum Ausgang eskortierte. Wir prüften, so oft es ging.
Direkt neben Sülz eröffnete irgendwann ein kleiner Verschlag, in dem es Singles für eine Mark gab. Holländische Importe und sowas. Für eine Mark. Etwas weiter vorne in der Flinger Straße war der Musicshop, wo auch vorne am Eingang die Sonderangebote lockten. Langspielplatten für 9,80 Mark. Das war quasi ein Für-die-Hälfte-Angebot, denn eine normale LP kostete 18 Mark.
Ich weiß noch, wie ich genau diese 18 Mark vorhielt, um mir in einem kleinen Laden an der Kapuzinergasse meine erste Langspielplatte zu kaufen. „Help“ war es, von den Beatles. 18 Mark, das war ein Vermögen für mich, der ich gerade mal fünf Mark Taschengeld im Monat bekam. Entsprechend behandelte ich die Platte mit Ehrfurcht, verwahrte sie als privates Heiligtum in einem besonderen Behältnis. Ich habe die Platte heute noch. Ich hole sie manchmal hervor, aber ich lege sie nicht mehr auf, weil ich Angst habe, die Nadel könnte dem jetzt schon vorhandenen Knistern ein weiteres hinzufügen. Ich starre also auf das große Cover mit den Beatles drauf und höre die Musik von der Festplatte.
Meine erste Beatles-Single ist mir später auf irgendeiner Party geklaut worden. Großer Verlust. „Ticket To Ride“ war es, und ich erstand sie für 4,75 Mark an der Ecke von Königsallee und Adersstraße. Gegenüber sollte später Radio Evertz die große Stereo- und Plattenwelt eröffnen. Ein kleines Himmelreich für einen Vinylliebhaber. Wie oft habe ich dort nach Platten gejagt, bin ich herumgestromert um die tollsten Plattenspieler von Dual. Mit Antiskating. Wir wussten nicht wirklich, was das bedeutete, aber wir wussten, dass wir wer waren, wenn wir den Begriff Antiskating beiläufig in die Konversation einbringen konnten. Wir fachsimpelten über die richtige Grammzahl beim Auflagegewicht der Nadel, über Kristalltonabnehmer und solche aus Diamant.
Heute finde ich mein Glück in anderen Dingen. Ich schlendere durch die Stadt und schaue mir all die Häuser an, wo früher mal Schallplattengeschäfte waren. Es sind so viele. Es waren noch mehr, als ich jung war. Aber vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ich damals so klein und die Stadt so groß war. Düsseldorf war für mich ein Vinylparadies.
Heute kann ich mir jede Platte leisten, jederzeit. Aber wozu? Die Musik ist ja da, ständig abrufbar von meiner Festplatte oder von den CDs oder den Platten im Keller. Ja, im Keller. Dort steht auch der Plattenspieler mit der ihn beschützenden Staubschicht, die ihn aussehen lässt, als gehöre er auf den Müll.
Dorthin wird er wohl mal wandern, wenn ich nicht mehr bin. Und mit ihm wird wahrscheinlich „Help“ von den Beatles den finalen Weg antreten. Das Vinyl wird meinen Nachkommen nichts sagen. Die Zeiten ändern sich, die Werte ändern sich. Hätten wir damals schon Spotify gehabt, wir wären dabei gewesen. Aber wir hatten es nicht. Wir hatten nur diese kleinen Traumpunkte, wo Platten gehandelt wurden. Mann, Mann. Those Were The Days.
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