Die Koinzidenz ist zufällig: Nachdem Benjamin Houlihan im Kunstverein Mönchengladbach eben erst an der Gruppenausstellung „Mobilia“ mit einer Skulptur aus seinen „Abschleifungen“ beteiligt war, hat er dort jetzt eine Einzelausstellung, bei der er andere, neue Werke zeigt. Und da „Mobilia“ bis Monatsmitte im Schloss Ringenberg zu sehen ist, lässt sich aktuell ein guter Überblick über seine Arbeit gewinnen.
Die „Abschleifungen“ beruhen überwiegend auf Möbelstücken, deren Holzflächen nun aber bis auf wenige Millimeter abgeschliffen sind und infolge dieser Metamorphose mit ihren Maserungen papiern zart, oft zerbrechlich wirken. In der Ansicht von der Seite zieht sich der plastische Raum eines Wandschranks, so auch des ausgestellten „grand thin cabinet“, auf Linien und Streifen zusammen. Die Flächen und Stege verschieben sich durch die Wegnahme von Volumen und Gewicht hin zur fragilen architektonischen Konstruktion. Das gilt ebenso, innerhalb dieser Werkgruppe, für einen geöffneten Klavierflügel, bei dem sich mit seinen vielen, nun schier transparenten Durchsichten und den sich ablösenden Schichten eine theatralische Stille einstellt: als wäre der Klang noch zu hören. Und dann, bei anderen Skulpturen der „Abschleifungen“, hat Benjamin Houlihan zudem verbindende Partien entfernt, etwa die Sitzfläche beim „horny chair“ (2012). Die prekäre Stabilität tritt wie ein psychischer Zustand zur Dysfunktionalität.
Benjamin Houlihan wurde 1975 in Olpe geboren, nach einer Ausbildung zum Steinmetz hat er an der Kunstakademie Düsseldorf bei Georg Herold studiert. In den letzten Jahren wurde er mit dem Kunstpreis der Stadt Nordhorn sowie den Lothar-Fischer-Preis in Neumarkt in der Oberpfalz ausgezeichnet: als Bildhauer, der mit ganz verschiedenen Verfahren das zeitgenössische Potenzial von Skulptur auslotet, aber auch erweitert. So wie Houlihan seine „Abschleifungen“ durch substrahierende Vorgänge erstellt, so entwickelt er – ebenfalls seit ca. 2010 – riesige „Farbhäufungen“ in der additiven Zusammenfügung von amorphen Farbkörpern. Dazu verwendet er als Material Polyurethan, dem er Farbpigmente beifügt und das sich in kurzer Zeit härtet. Die Volumina türmen sich aufeinander und halten sich dabei (manchmal gerade noch) in der Balance. Die „Farbhäufungen“ verwirklichen – als malerisches Denken von plastischen Erfahrungen – ein Komponieren mit dem Raum. Houlihan provoziert und steuert den Zufall, das Fließen der Farbsubstanz, die noch an einzelnen Stellen tiefer liegende Farben durchschauen lässt. Die Maße sind großzügig, die Anhäufungen schwelgerisch und dann wieder streckenweise lakonisch. Dazu sind die Oberflächen schründig oder aufgewühlt oder doch glatt und strömend. Einzelne Farbtöne, Strukturen oder Texturen kehren innerhalb des Geschehens wieder. Und mit jeder neuen Skulptur erarbeitet Houlihan prozesshaft ein reiches Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, das punktuell Assoziationen an vertraute Phänomene, an Vegetation und Körperfragmente zulässt, so ungegenständlich sie als Formereignis auch ist. Das Sehen – und damit die umrundende, dabei mehr und mehr differenzierende Bewegung – kommt hier nie an ein Ende.
Beides hat seine Vorläufer. Die „Abschleifungen“ sind indirekt, in gewisser Weise in den „Lichtfallen“ angelegt, die Houlihan ab 2006 entwickelt hat. Farbig schillernde, schräg verlaufende, mitunter kantig sich teilende Schächte aus beschichtetem Aluminium und Polyester rekonstruieren den Lichtstrahl, wie er durch Fenster und über Raumstrukturen hinweg fällt, in einer Manifestation des Immateriellen. Die „Farbhäufungen“ wiederum sind durch abstrakte Werke aus Polyester, Polyurethan und Polyester vorbereitet. Sie waren 2010 als Ensemble im Kunstmuseum Bonn ausgestellt: ohne Farbe, mit der Anspielung auf Figur und Gegenständlichkeit amorph oder kantig, die Größe in Relation zu ihrer Präsentation (lehnend an der Wand oder frei stehend im Raum) und ihrem Abstand zueinander. „Damit ‚behauptet‘ Houlihan, dass Gesetzmäßigkeiten der flächigen Darstellung, etwa die perspektivische Verkleinerung, auf die Dreidimensionalität des Skulpturalen übertragbar sind“, hat Ludwig Seyfarth geschrieben (Kat. Der Westen leuchtet, Bonn 2010).
Dimension und Proportion und die wechselnde Erfahrbarkeit der Werke bleiben bis heute zentrale Überlegungen, die sich durch alle Gruppen ziehen. So entstehen seit einigen Jahren winzige Zinngüsse, die zudem direkt auf dem Boden stehen. In der aktuellen Ausstellung in Mönchengladbach steht einer über 2 m hohen „Farbhäufung“ eine solche, 15 cm kleine Plastik gegenüber. Expressiv fließend, pulsierend in den Hebungen und Senkungen und partiell kantig in der Binnenstruktur, deutet sich im Zinn die Physiognomie eines Kopfes an. - In anderen neuen Skulpturen wieder zerlegt Benjamin Houlihan die vertikale Ausrichtung sukzessive; in der Skulptur „Victor Stuhl“ (2019) folgen die einzelnen horizontalen Segmente des lebensgroßen Stuhles jeweils mit etwas Abstand aufeinander. - Eine ganz andere Form der Annäherung und eigenen Unmittelbarkeit – auch hier als skulpturale Haltung – nimmt er mit seiner Malerei mit der Zunge mit Lebensmittelfarbe an der Ausstellungswand vor, zuletzt, vor einem dreiviertel Jahr, im Kunstmuseum Wolfsburg. Das lichte, hell flackernde Rot vermittelt eine vibrierende organische, intuitiv plastische Anmutung, in der sich das Sehen beim Vor- und Zurücktreten und Abschreiten verstrickt.
Und damit wiederum verwandt ist, dass Houlihan von Anfang an gleichberechtigt auf Papier zeichnet und diese Bögen gelegentlich gemeinsam mit seinen Skulpturen ausstellt. Meist zieht er wenige, überwiegend geschwungene Linien im Blatt. Die Vorstellung von Volumen, Leiblichkeit oder der Kontur eines Kopfes stellt sich ein, aber mitunter bricht die Linie kurz vor der Klärung ab und schlägt eine andere Richtung ein. Wie die Skulpturengruppen – kein bisschen anders – sind auch diese Zeichnungen sinnlich und mitreißend zwischen Fläche und Raum.
Benjamin Houlihan: David‘s Mirror, bis 25. Juli im Kunstverein Mönchengladbach, Künkelstraße 125, sonntags 11-14 h u.n.V., www.mmiii.de
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