Jetzt gehen sie dahin, die schönen Tage. Bald wird es sie nicht mehr geben, die feinen Momente der Beschaulichkeit, da man sich beinahe schwebend durch die Lande bewegen konnte, ohne jenem Ungeheuer zu begegnen, das mit Masse nur schwerlich umfassend beschrieben ist. Vorbei die Stunden der Muße, da die Seele sich wiegte in der Gewissheit, ungestört bleiben zu dürfen, unbehelligt von Getöse. Bald wird alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Bald wird sie vorbei sein, die Fußball-WM.
Ja, die Fußball-WM. Was für schöne Tage waren das, da man sich sicher sein konnte, in bestimmten Stunden draußen allein zu sein oder den Ausblick, die Gegend, die Luft zumindest nur mit jenen teilen zu müssen, die auch beseelt waren von dem Gedanken, sich nicht vereinnahmen zu lassen von dieser Fußballindustrie. Dieses Momentum der Erhabenheit, wenn man seinen Kinobesuch just auf den Termin eines wichtigen Spiels legte, wohlwissend, dass man dann die Stadt, die Straßen, das Lichtspielhaus für sich hat, das war erhebend.
Es ist ja nicht so, dass alle Fußballfans Deppen sind, aber die Annahme, dass alle Deppen Fußballfans sind, trägt doch sehr weit und dürfte irgendwo im 90-Prozent-Bereich rangieren. Was für ein feines Gefühl war das, wenn man für ein paar Stunden wusste, dass die Stadt deppenfrei sein würde. Was für ein Gefühl der ganz großen Freiheit. Vertraute Wege zu gehen und kaum eine Seele zu treffen, und wenn man eine traf, dann war da die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es eine verwandte sein würde.
Nur um das mal klarzustellen: Ich habe nichts gegen Fußball. Ich halte Fußball für eine wunderbare Art der Körperertüchtigung, und auch das Anschauen zweier Elfergruppen, die sich keinen zweiten Ball leisten können und deshalb ständig hinter dem einen herjagen, kann reizvoll sein. Meine Abscheu, und ja, ich sage Abscheu, speist sich vielmehr aus dem inzwischen industriellem Gehabe dieser Branche. Warum soll ich diesen traurigen Gestalten, deren Ausdruckskraft sich oft in der Verwaltung ihrer Ganzarmtattoos erschöpft, beim Arbeiten zusehen. Ich gehe ja auch nicht ins nächstgelegene Bankhaus und sage: Lasst mich mal Zeuge werden, wie ihr Leute bescheißt. Nein, für mich grenzt das Zuschauen bei solchen Pseudoevents an Voyeurismus der ganz üblen Sorte.
Vor allem stört mich die Verengung der Diskussionen während einer so genannten Weltmeisterschaft. Alles scheint sich nur noch um Fußball zu drehen, und im Schatten der Begeisterung werden Gesetzesvorhaben durchgedrückt, die man vor dem hellen Licht einer breiten Öffentlichkeit bewahren möchte. Und überhaupt der Begriff. Weltmeisterschaft. Klingt in meinen Ohren immer noch ein bisschen nach Weltherrschaft. Solch ein Begriff ist unbefangen nicht zu goutieren.
Deshalb lasst uns die letzten Tage genießen, lasst uns den Vögeln lauschen, die klug sind, denn sie haben keinen Fernseher. Lasst uns denen ein Lächeln schenken, die sich auch verweigern dem großen durchkommerzialisierten und zutiefst korrupten Irrsinn. Genießen wir noch eine kurze Weile die Gemeinsamkeit der Abtrünnigen, und machen wir uns die Negation eines berühmten olympischen Mottos zueigen: Nichtdabeisein ist alles.
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