Du bist bei mir. Ich bin im Bild. Du kennst meine Wege, ich kenne dich nicht. Aber ich weiß, dass du mich kennst. Ich weiß, dass du da bist. Wenn ich durch die Straßen schlendere, bist du bei mir. Du siehst mich. Du achtest auf jeden meiner Schritte. Wenn ich hinabsteige in die U-Bahn, bist du bei mir. Du verlässt mich nicht, auch wenn da kein Himmel mehr über mir ist, wenn nur noch Beton auf mir lastet, siehst du mich doch. Ich weiß, dass du mich beschützt.
Du beschützt mich. Sogar vor mir selbst. Was würde ich tun, wärst du nicht da? Geriete ich in Versuchung? Ein Tritt gegen den Papierkorb vielleicht? Würde ich mein Kaugummi achtlos auf die Gleise spucken? Ich tue es nicht, weil ich weiß, dass du alles siehst, was ich tue. Und weil ich weiß, dass du alles siehst, was ich tue, tue ich nicht alles. Es ist gut, dass da jemand auf mich achtet, denn tief in meinem Inneren lauert eine Bestie, ein unberechenbares Wesen, eine Kreatur, die im Falle von Verärgerung den Nachbarn zur Rechenschaft ziehen würde. Ein kurzer Schlag auf die Zwölf vielleicht. Schlage deinen Nächsten. Vielleicht lautete meine Devise so, wärst da nicht du. Und erlöse mich von dem Bösen.
Weil du mich hütest, wird mir nichts mangeln. Dein ist das Reich. Als Kind wurde ich oft vernachlässigt. Ich streunte durch verwilderte Schrebergärten und über Schutthalden. Ich turnte über Baustellen und ertrank beinahe in einer vollgelaufenen Grube. Mit Mühe und Not konnte ich mich retten. Mich selbst retten. Niemand war da, mir eine Hand zu reichen oder auf mich zu achten. Niemand sah zu. Heute fühle ich mich besser, weil du da bist.
Du begleitest meine Wege, und passierte mir etwas, in der U-Bahn oder sonstwo, du wärest da. Nicht persönlich. Aber du würdest Hilfe schicken. Denn dein ist das Reich. Und die Kraft.
Du weidest mich auf einer grünen Aue. Meine grüne Aue ist eine sichere Stadt. Die Stadt ist sicher, weil du sie vor Typen wie mir bewahrst. Was würde ich nicht alles anstellen, wüsste ich nicht um deine Allmacht. Vielleicht würde ich Hunde quälen, Tauben töten oder grün wählen.
Geheiligt werde dein Name. Wie aber ist dein Name? Ich kenne dich und kenne dich doch nicht. Ich sehe deine Augen überall, aber ich weiß nie, wo du bist. Du schaust auf mich herab und registrierst genau, was ich tue. Manchmal spüre ich, wie deine Augen mich verfolgen. Dann drehen sich die Kameras so, dass sie sehen können, was ich tue.
Ich gebe zu, ich habe gefehlt. Einmal habe ich dir schon den Stinkefinger gezeigt. Ich war betrunken. Entschuldige. Und dann habe ich auch eine Petition unterschrieben. Gegen zu viel Überwachung. Herr, ich habe gefehlt. Ich fühlte mich verunsichert durch all die Berichte von der NSA, vom BND, von der GEZ. Aber ich weiß doch, dass es ohne dich nicht geht. Bändige mich, zähme meine Triebe. Nur weil es dich gibt, bin ich zivilisiert.
Ich weiß, ich soll mir kein Bild von dir machen. Aber ich wüsste doch gerne, wo du bist, wo du nach mir schaust. Sitzt du in einem kleinen Kabuff und schaust auf einen flimmernden Monitor, der dir zeigt, was ich tue? Oder in einem schillernden Palast vor einer riesigen Wand mit hunderten von Bildschirmen? Was machst du, wenn du Feierabend hast? Gehst du dann heim, schaust fern und vergisst mich? Tust du das? Ehrlich? Lässt du mich allein? Schaut dann irgendjemand anderes auf mich, irgendjemand x-beliebiges?
Ich will nicht allein sein. Ich neige zur Dummheit, wenn ich nicht beachtet werde. Bitte beachte mich rund um die Uhr. Sei bei mir. Ich unterschreibe auch, dass ich für eine Vervielfältigung deiner Augen bin. Überall sollen Objektive aufnehmen, was ich tue. Ich brauche einen großen Bruder, der mich zügelt. Sorg für mich rund um die Uhr. Über und unter der Decke. Immer. Wer weiß, was ich sonst so tue. Ich Mensch, ich.
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