Es wird eindeutig zu viel gesperrt in Düsseldorf. Und zu viel gefeiert. Ich meine nicht die kleinen Feiern, die privaten. Ich meine, die großen Festivitäten, die sich wie Kraken über die Stadt legen und immer häufiger immer größere Areale für sich beanspruchen. Da werden dann Zelte aufgestellt, Tische drapiert und irgendein Mist für teures Geld an den Passanten gebracht.
Vorher aber wird gesperrt was das Zeug hält. Anwohner kommen nicht mehr aus ihren Häusern, dürfen ihre abgeschleppten Autos für teures Geld irgendwo aus dem Nirwana holen, und ob man das Café seiner Wahl noch erreicht, weiß man auch erst, wenn man an einer Absperrung scheitert.
Anwohner wie Gastronomen stöhnen gleichermaßen über die Schwemme von Festivitäten und die damit einher gehende Schwemme von Sperrungen. Dazu kommen die Sperrungen, die aufgrund von Unfällen oder Bauarbeiten fällig werden. Zum Beispiel in den Düsseldorfer Tunneln, die gefühlt häufiger gesperrt als geöffnet sind.
Ja, ich weiß, das ist ungerecht formuliert, aber in diesen Tagen schert sich doch keiner mehr um Fakten. Gefühl ist Trumpf. Oder Trump. Oder irgendwas. Geh weg mit Realität. Was zählt ist die Befindlichkeit. Ich bin nicht wirklich bedroht, aber ich möchte mich gerne bedroht fühlen, weil das mein Selbstwertgefühl steigert. Mein Gefühl.
Man könnte es begrüßen, wenn eine Gesellschaft sich zu ihren Gefühlen bekennt. Nichts anderes haben wir doch jahrzehntelang gefordert: Dass nicht nur Zahlen zählen, sondern auch Gefühle. Und jetzt, wo alle unseren Forderungen nachzukommen scheinen, ist es auch wieder nicht recht.
Es ist schon ein Dilemma, wenn ein Wunsch in Erfüllung geht, das zugehörige Geschenk sich aber als Monstrum entpuppt. Plötzlich finden sich jene, die früher auf die Anerkennung von Gefühlen pochten, in der Position des Faktenhubers wieder und fordern penible Checks der Lage. Das führt zu der absurden Situation, dass oben nicht mehr oben ist und unten überall.
Alles ging los mit der gefühlten Temperatur. Plötzlich war nicht mehr maßgeblich, was das Thermometer anzeigte, sondern was die Haut signalisiert. Das konnte man als ersten Durchbruch einer neuen Sensibilität werten. Sensibel sein kam gut, bedeutete es doch, dass Empfindsamkeit einen Wert an sich darstellte.
Wer konnte denn ahnen, dass aus Empfindsamkeit sehr schnell Empfindlichkeit werden würde, dass es plötzlich als Statussymbol durchgehen würde, Angst zu haben. Angst vor was auch immer.
Vor allem natürlich vor Veränderung. Veränderung macht Angst. Der Durchschnittsmensch hat es nicht gerne, wenn die Welt am Morgen anders aussieht, als er sie beim Zubettgehen hinterlassen hat. Wenn dann noch Fremde zu sehen sind, erschrickt er gleich ganz schlimm.
Man kann das als Symptom einer rasanten Überforderung begreifen. Die neue Welt erfordert ständige mentale Präsenz. Ausruhen wird seltener, der Zwang zur Reaktion regiert den Alltag. Niemand darf mehr ruhen. Wer rastet, rostet. Das gilt heute mehr denn je. Es reicht nicht einmal mehr, angemessen zu reagieren. Wer reagiert, ist in der Defensive. Nur wer agiert, bestimmt die Agenda. Alle anderen erstarren in Verteidigungspositionen.
Genau das haben zuerst die falschen Leute kapiert, und nun treiben sie die Abwartenden vor sich her. Die öffentlichen Plätze, die sich im Digitalen auftun, haben sie schon für sich okkupiert. Wo immer es etwas zu posten gibt, sind die Dumpfbacken rasch die Lautesten. Die Besonnen fühlen sich da schnell abgehängt und tendieren ihrerseits zu einer gewissen Radikalisierung. Dass das nicht gut fürs Gemeinwesen ist, kann sich jeder mit einem IQ über Kartoffelsalat leicht ausrechnen.
Was das alles mit dem Feiern zu tun hat? Nun ja, das Feiern kann ja viel sein. Man darf es halt nicht nur als Zeichen urbaner Überkommerzialisierung sehen, man kann es auch neu definieren. Definieren im guten Sinne. Feiern kann auch für Gemeinsamkeit stehen, für das Zusammenfinden von Fremden, die sich sonst vielleicht nicht begegnet wären.
Genau da kommen auch die Absperrungen ins Spiel. Die gilt es, zu nutzen. Wenn sich Menschen künftig an jeder Absperrung zum Feiern zusammentun, dann besetzen sie einen Mangel mit neuem Sinn, dann wird aus der Barrikade ein Ort des Zueinanderfindens. Das dürfte dann auch bald zurückwirken auf die organsierten Festivitäten. Die gilt es nicht zu bekämpfen, sondern umzufunktionieren, sie per Masseneinwanderung neu zu definieren. Holen wir uns die Plätze zurück.
So wie man das Netz nicht allein lassen darf mit den Brüllaffen, so darf man auch die großen Feiern nicht Tummelplatz für Dumpfbacken sein oder werden lassen. Wir müssen sie überschwemmen und mit gutem Geist aufladen. Mit Freundlichkeit, mit Nächstenliebe. Und von mir aus auch mit Gefühl.
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