Muss ein Sommer heiß sein? Ist ein Sommer in der Stadt erst ein Sommer, wenn das Hemd an der Haut klebt, wenn man oszilliert zwischen Klimaanlagenkühle in den Boutiquen und der Asphalthitze auf der Kö, wo irgendwelche Idioten um die Zwanzig ihren Testosteronüberschuss durch nichtsnutziges Hupen kundtun? Zugegeben, das hat einen Vorteil. Man hört das Hupen, dreht sich um zum Huper, schaut durch die Windschutzscheibe in leere Augen und weiß: Ah, ein Idiot. Dann braust der Huper hupend davon. Der Idiot macht seinen Weg über brodelnden Asphalt. Prompt denke ich, dass ein heißer Stadtsommer die übersichtliche Intelligenz solcher Typen brutal offenlegt. Das finde ich gut. Weniger gefällt mir, dass solche Gestalten mit demselben Recht wählen dürfen wie ich auch.
Ich finde das ungerecht, weil ich mich dem Huper überlegen fühle. Ich möchte ihm prompt das Wahlrecht absprechen. Ich bin alt, ich darf das.
Darf ich natürlich nicht. Die alleinige Tatsache, dass ich mehr Vergangenheit als Zukunft habe, berechtigt mich zu gar nichts. Und wenn ich anderen Menschen das Wahlrecht absprechen möchte, nur weil sie dumm herumhupen, dann disqualifiziert mich das zuallererst selbst. Ich bin alt, der Huper ist jung. Er hat sein Leben noch vor sich. Mit welchem Recht will ich ihm das Recht absprechen, per Wahl über seine Zukunft mitzubestimmen. Na ja, der Sommer, die Hitze, Sie wissen schon…
Trotzdem lässt mich der Gedanke nicht los. Ich frage mich, warum ganz junge Menschen nicht wählen dürfen, warum Menschen unter 18 Jahren von der Wahl ausgeschlossen sind. Weil sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes doof sind, sagen manche. Das aber ist ein Argument, das auch auf einen Großteil der Gesamtgesellschaft anwendbar wäre. Wenn erwachsene Männer um die 50 auf komplexe Fragen der Gesellschaft nur noch mit unterkomplexen Parolen und internetgetriebenen Verschwörungstheorien reagieren und jene, die ihnen die wahre Natur der Dinge erklären wollen, als Lügenpresse abtun, dann bin ich mir nicht so sicher, wer bei Wahlen den größeren Schaden anrichtet. Ein schulisch gut gebildeter Zehnjähriger oder diese die Realität bis an den Rand der Wahrheitsverleugnung dehnenden alten weißen Frauen und Männer?
Dann erinnere ich mich noch an die Brexit-Abstimmung, bei der die jungen Menschen nicht in genügender Zahl an der Wahlurne erschienen sind, weshalb die alten Menschen die Abstimmung entschieden haben. Sie haben über etwas entschieden, dessen Folgen sie in der Mehrheit nicht mehr erleben beziehungsweise erleiden werden. Alte Menschen haben also der Jugend die Zukunft versaut und sind auch noch stolz drauf.
Mir fällt dann ein - der Sommer, die Hitze, Sie wissen - dass man das mit dem Wahlrecht doch auch mal ganz anders handhaben könnte. Man muss Menschen unter 18 Jahren gar nicht selber wählen lassen, aber man könnte ihnen ein Stimmrecht geben, das von ihren Eltern ausgeübt wird, zusätzlich zu deren eigenem. Kinder sind Zukunft, und solange sie selbst nicht genau wissen, wie das alles funktioniert, stimmt für sie jemand ab, der ihnen ganz viel Zukunft wünscht. Die Mutter oder der Vater.
Umgekehrt würde ich aber gerne alten Menschen das Wahlrecht entziehen. Wer älter wird, reagiert langsamer, ist nicht immer Herr seiner Gedanken, kann mit vielen komplexen Entwicklungen der Neuzeit wenig anfangen. Er gleicht damit im Prinzip den Unter-18Jährigen, die wir ja bekanntlich auch für unmündig halten. Ich weiß, wovon ich rede. Als Konsequenz würde ich gerne Menschen mit 75 Jahren das Wahlrecht entziehen.
Halt, Moment! Bevor jetzt der Shitstorm losbricht: Alt ist nicht das neue Böse. Die Stimme des alten Menschen bleibt erhalten. Er kann sie weitergeben an seine Kinder, an die nächste Generation. Er kann sie auch seinen Enkeln vermachen. Die Erben, also jene, für die Zukunft noch etwas Großgeschriebenes ist, hätten dann zwei Stimmen bei einer Wahl. Der alte Mensch muss seine Stimme aber nicht vererben. Er kann sie auch verfallen lassen. Bei Kinderlosen verfällt das Wahlrecht einfach so. Ich bilde mir ein, dass die Gesellschaft damit vom sturen Beharren auf Besitzstandswahrung abgehalten würde. Wandel käme voran. Nur wer sich wandelt, überlebt. Das lehrt uns die Evolution. Auch der dumme Huper braucht eine Chance, sich zu wandeln, auch bei großer Hitze. Wenn das Hemd klebt. Sie verstehen…
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
The Last Waltz – Hans Hoff verabschiedet sich
Die (letzte) biograph Ouvertüre Januar 2022
Wir verlieren die Altstadt.
Die biograph Ouvertüre Dezember 2021
Roller hier, Roller da, Roller überall
Die biograph Ouvertüre November 2021
Grenzenlose Dummheit oder Sabotage in der einstigen Gelingerstadt?
Die biograph Ouvertüre Oktober 2021
Final Sale im Tal der Hässlichkeit
Die biograph Ouvertüre September 2021
Lügner, Volldeppen und Menschen mit Herz
Die biograph Ouvertüre August 2021
Die Aufregungsgesellschaft
Die biograph Ouvertüre Juli 2021
In die Mitte - Wo die Oper hingehört
Die biograph Ouvertüre Juni 2021
Düsseldorfs Medienmarkt in Bewegung
Die biograph Ouvertüre Mai 2021
Ein wunderbares Jahr für Düsseldorf
Die biograph Ouvertüre April 2021
Nur noch drei Kehren
Die biograph Ouvertüre März 2021
Der kleine Prinz Fassmichbittean in der großen Wüste
Die biograph Ouvertüre Januar/Februar 2021
Gegen den C-Blues: Mental stoßlüften und ein bisschen jammern
Die biograph Ouvertüre Dezember 2020
Das Haus der Jugend ist tot, es lebe der Ratinger Hof
Die biograph Ouvertüre November 2020
Stellenanzeige: Gruppenleiter (m/w/d) im Förder- und Betreuungsbereich
Die biograph Ouvertüre September 2020
Die neue Zeit der Bescheidenheit
Die biograph Ouvertüre August 2020
Die Protected Life Lane wird täglich enger.
Die biograph Ouvertüre Juli 2020
Keiner hat gesagt, dass es leicht werden würde
Die biograph Ouvertüre Juni 2020
Nein! Was? Doch! Die Krise als Chance
Die biograph Ouvertüre Mai 2020
Someday My Prince Will Come
Die biograph OuvertüreApril 2020
Alles muss raus? Düsseldorf als Resterampe
Die biograph Ouvertüre März 2020
Karneval: Zwischen Ohnmacht und Wurzelbehandlung
Die biograph Ouvertüre Februar 2020
Die Avengers der Entsorgungskultur
Die biograph Ouvertüre Januar 2020
Heiligabend friert die Hölle zu
Die biograph Ouvertüre Dezember 2019