Wir werden alle sterben. Alle. Unsere Überlebenschance ist gleich null. Wir werden alle zu Staub zerfallen. Ashes to Ashes. Die einen früher, die anderen später.
Im Moment erwischt es gerade die Babyboomer. Die geburtsstarken Jahrgänge aus der Nachkriegszeit, als man sich anschickte, wieder wer zu werden, rücken nun langsam vor an die Pforten der Altenheime. Mit jedem Geburtstagswürfel dackeln sie ein Feld weiter Richtung Grabstein, aber die Chance, irgendwann doch noch auf der Schlossallee zu landen oder erneut über Los gehen zu dürfen, schmilzt tendenziell auf Stecknadelkopfgröße.
Man stirbt gerade gerne. Lemmy musste noch vor der Jahreswende gehen, und kurz nach dem Verhallen der Silvesterböller verabschiedete sich die singende Spreewaldgurke Achim Mentzel, ein sehr beliebter Ossi-Clown, bevor dann David Bowie final die Biege machte und den Auftakt von 2016 komplett vermasselte. Schließlich kam noch der Tod von Alan Rickman hinzu. Letztere drei waren alle 69 Jahre alt und begründeten damit eine neue Vereinigung, den Club 69.
War man in jungen Jahren noch stets geneigt, dem Club 27 beizutreten und ebenso früh abzuleben wie Jim Morrison, Janis Joplin, Kurt Cobain oder Jimi Hendrix, so trübt die Aussicht auf ein Abo im Club 69 doch einigen die Sinne. Schon werden angehende Frührentner gesichtet, die ausrechnen, welche Differenz sich ergibt, wenn sie ihr aktuelles Lebensalter von 69 subtrahieren. Gestern hatte 69 noch eine ganz andere Bedeutung. Mann, 69 war Woodstock, startete „Easy Rider“, haben John und Yoko in Gibraltar geheiratet.
Es werden noch mehr Popstars sterben und ihre Fans allein lassen. All jene, die in den Sechzigern jung waren und den Aufbruch gegen das Establishment probten, müssen sich darauf einstellen, dass ihnen die Revolutionsbegleiter abhandenkommen. Wie lange macht es Keith Richards noch? Wie lange will Pete Townshend noch den 50. Geburtstag der Who feiern? Jetzt, wo Bowie weg ist, stellen sich solche Fragen, die vergangenes Jahr noch despektierlich geklungen hätten.
Es sind die besorgten Fragen einer Generation, die inzwischen häufiger Trauerkapellen besucht als Konzerthallen, die sich bald allein gelassen fühlen dürfte. Was in den Sechzigern mit Beat begann, später Rock wurde und noch später in den Sog der allgemeinen Popkultur mündete, war vielen ein treuer Begleiter über die Jahre. In der Musik manifestiert sich für viele nach wie vor der Rest von Unbotmäßigkeit, der noch tief in ihnen brodelt. Und das soll ihnen nun auch noch genommen werden?
Von der ganz großen Katastrophe ahnen die geistigen Rocker von einst aber noch gar nichts. Wenn sie nämlich erst einmal die Pforte zum Altenheim überschritten haben, wird ihnen auch das letzte bisschen Beat entzogen. Der einzige Beat, der dort noch zählt, ist der aus dem Herzschrittmacher.
Schlimmer aber noch ist die Musikkultur, die dort herrscht. Altenheime und Seniorenresidenzen sind inzwischen identifiziert als Rückzugsort, an dem die final besiegt geglaubte volkstümliche Musik überlebt hat und immer überleben wird. Wer glaubt, er könne mit „Smoke On The Water“ oder „Born To Be Wild“ das Altenheim rocken, wird sich noch wundern, wenn ihn vom linken Nachbarzimmer Helene Fischer und vom rechten Florian Silbereisen niederschallt. Die wunderbare Vorstellung, dass man sich im Seniorencafé weiter über die essentielle Frage „Beatles oder Stones?“ streiten kann, verpufft als Illusion von Träumern.
Nicht wenige dürften dann sehnsuchtsvoll auf den frühen Tod ihrer Idole schielen. Wenn schon sterben, dann vor der Volksmusikhölle. Ein früher Tod kann auch etwas Gutes beinhalten. Wie sangen schon die WHO? Hope I die before I get old. Macht heute anders Sinn als früher. Und sterben müssen wir ja sowieso. Alle.
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